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Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman

Titel: Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
Autoren: Susan Fraser
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streiften wir durch die Seitenstraßen. Der vertraute nasskalte Geruch, der vom Straßenpflaster aufstieg, machte mich schaudern. Wir versuchten erneut den Weg zu finden, den wir damals an unserem ersten Abend gegangen waren, als Marc mir angeboten hatte, mich nach Hause zu fahren. Aber wir kannten uns nicht mehr aus, wir liefen im Kreis, wieder und wieder, gingen im Schatten alter Gebäude schwach beleuchtete Bürgersteige entlang, vorbei an Hotels, Bars und Cafés. Lärmend schoben sich Nachtschwärmer an uns vorbei. Wir gelangten erneut an dieselbe Stelle, wo wir vor zwanzig Minuten schon einmal gewesen waren, vor dem alten Theater mit der reich verzierten Fassade aus dem neunzehnten Jahrhundert, in der Rue Daunou - einer kleinen, schmalen Straße beim Kitty um die Ecke. Es ist nicht leicht, einen Parkplatz wiederzufinden, auf dem man vor fünfzehn Jahren seinen Wagen abgestellt hat.
    Vielleicht lag es an der Kälte dieser Nacht. Die Wirkung der frischen Märzluft auf unsere Sinne war grausam ernüchternd - als ob man nach einer Operation im Aufwachraum zu sich kommt und die Betäubung, die Benommenheit unter der Narkose, viel zu schnell verfliegt. Doch obwohl wir aufgewacht waren, befanden wir uns immer noch in dieser verschwommenen Zeitlosigkeit, immer noch in Paris.
    Und wo, ach, wo war bloß Charlie? Sein Gesicht ging mir nicht aus dem Sinn, sein Blick, seine zitternde Gestalt. Bei dem Gedanken an ihn zitterte auch ich.
    Marc lief vor mir her, er wurde immer schneller. Ich versuchte Schritt zu halten, aber meine Schuhe waren zu eng und zu hoch und die Riemchen scheuerten mir die Fersen wund. Außerdem hatte Marcs Gang etwas Ungewohntes - die Energie eines jungen Mannes. Oder war es die Panik, die ihn in solcher Hektik vorantrieb? Dabei kamen wir doch gar nicht weiter, und mir war eisig kalt, obwohl ich die Arme fest über der Brust verschränkt hatte.
    »Marc?«
    Er drehte nicht einmal den Kopf.
    »Marc, bitte! Warte!«
    Da wandte er sich um, blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen und warf die Hände in die Luft. »Je ne le sais pas!«
    Ich fragte mich, was er nicht wusste - den Weg zurück zu seinem Auto oder nach Hause zu Charlie? »Wo ist er denn bloß, Marc?«
    Er erwiderte meinen Blick und schüttelte den Kopf. »Je ne sais pas, Annie! Ich verstehe das alles überhaupt nicht.«
    Inzwischen klapperten mir die Zähne, ohne dass ich mich hätte beherrschen können. Es war alles zu viel. Tränen brannten mir auf den Wangen, als ich auf das Pflaster hinunterschaute.
    »Allons. Komm weiter, Annie!«
    Obwohl er nur flüsterte, konnte ich die Angst auch in seiner Stimme hören. Ich wollte ihn nicht ansehen, wollte sie nicht auch noch in seinen Augen lesen, daher starrte ich weiter auf den Boden. »Ich muss auf die Toilette.«
    Er trat zu mir. »Ach so. D'accord.« Das war offenbar etwas, womit er umgehen konnte. »Da drüben ist ein Café. Viens!«
 
    Beim zweiten Cognac spürte ich allmählich, wie das magische Feuer der bernsteinfarbenen Flüssigkeit sich den Weg durch meinen Körper bahnte. In meinem Hirn breitete sich eine Wolke aus, die meine Sinne benebelte. Beim dritten Cognac hatte ich aufgehört zu zittern. Das große Ballonglas, das kühl in meiner Handfläche lag, während ich die letzten Tropfen immer wieder herumschwenkte, wirkte beruhigend.
    Im Auge des Orkans.
    Wir saßen einander gegenüber, in der Ecke am Fenster des schwach beleuchteten Cafés, wie einsame Gestrandete, die mitten in der Nacht auf einem Bahnhof warten, obwohl kein Zug mehr fährt. Schweigend starrten wir auf die Straße hinaus und versuchten, das Geschehene zu begreifen. Bis auf einen alten Mann, der, in alkoholisierte Träumereien versunken, über der Theke hing, waren wir allein. Die Kellnerin stand in ihrer gestärkten weißen Schürze und ihren High Heels im Eingang, rauchte eine Zigarette und wartete darauf, dass wir gingen.
    Aber wo sollten wir hin?
    Durch den Hinterausgang des Cafés gelangte ich zur Toilette, in der ein schmieriger, gesprungener Spiegel über dem Waschbecken hing. Die junge Frau, die mir daraus entgegenschaute, überraschte mich. Im kalten, gnadenlosen Neonlicht fiel ihr langes dunkles Haar weich herab, und ihre braunen Augen strahlten mich an. Mir fiel das Reh ein, das auf der Straße nach Lherm unseren Weg gekreuzt hatte, mit großen, unschuldigen Augen, erstarrt im blendenden Scheinwerferlicht. Ich schob mein Gesicht dichter an den Spiegel heran und betrachtete es genauer. Die weiße Haut schimmerte
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