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Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman

Titel: Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
Autoren: Susan Fraser
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zu können. Die Schule suchte eine Englischlehrerin.
    Beattie unterrichtete bereits seit einem Jahr dort, sodass ich am gleichen Tag einen Job und eine Freundin fand. Sie klärte mich über wärmende Einlegesohlen auf. Und noch bevor ein Monat vergangen war, teilten wir uns eine Wohnung.
    Zwei Jahre später gingen wir eines Samstagabends aus. Wir hofften, jemanden zu finden, der uns wenigstens eine zweite Runde Getränke spendieren würde. Da wir gerade die monatliche Miete für unsere Wohnung bezahlt hatten, waren wir wieder mal pleite. In Paris zu unterrichten lohnt sich finanziell gesehen kaum. Aber damals waren wir jung, wir waren beide Single und immer noch verliebt in den Gedanken, in Paris zu leben, deshalb spielte das eigentlich keine Rolle.
    So sind wir uns begegnet, Marc und ich. Er war es, der uns die zweite Runde ausgab.
 
    Es war also, gelinde gesagt, ein Schock, ein Déjà-vu-Erlebnis im wahrsten Sinne des Wortes, den jungen Marc von damals wiederzusehen, seine blauen Augen, Charlies Augen, die mich anstarrten, und sein dichtes pechschwarzes Haar - sämtliche Silberfäden waren daraus verschwunden.
    Aber ich hatte keine Gelegenheit, etwas zu sagen, denn schon kriegte ich von links einen Stoß - jemand rammte mir einen Ellbogen in die Rippen. Als ich mich umdrehte, stand sie vor mir, eine junge Frau, das zweite bekannte Gesicht. Wie ein Feuerball umrahmte die lockige Mähne ihre fein geschnittenen Züge - wie bei einer elisabethanischen Königin. Ihre wachen grünen Augen blickten mich an.
    »Bist du denn total verrückt geworden, Annie MacIntyre?«
    Es war Beattie - nur jünger. Jetzt wusste ich, dass wir uns wieder im Kitty O'Shea befanden, diesem witzigen irischen Pub in einer Seitengasse hinter der Opéra.
    Ich drehte mich zu Marc um, musterte prüfend sein Gesicht, wünschte mir sehnlich eine logische Erklärung von ihm, um das alles zu verstehen - vielleicht war es ja bloß die Beleuchtung oder ein übler Streich von der Art, wie er sie mir früher gespielt hatte. Aber in seinen Augen las ich, dass es diesmal kein Streich war.
    Charlie hätte es die virtuelle Realität genannt. Ja, in gewisser Weise traf das zu, denn wir waren immer noch zusammen und tranken etwas, aber wir hatten uns von unserem Wohnzimmer an einen anderen Ort und in eine andere Zeit versetzt - als würden wir ein altes Familienvideo betrachten und uns anschauen, wie wir damals ausgesehen hatten. Bloß dass wir uns mittendrin befanden, wieder an Ort und Stelle, in 3-D gewissermaßen, und den Film nicht anhalten konnten. Marc und mir fehlten die Worte, wir waren wie betäubt durch den Schock. Nicht so Beattie.
    »Ich meine, da lass ich dich bloß eine Sekunde allein, und schon -«
    Doch nun richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Marc. Er betrachtete sie verwirrt, als sie ihn fixierte. Ihre Blicke begegneten sich, dann musterte Beattie ihn von Kopf bis Fuß. Sie taxierte ihn, begutachtete seine Jacke, seine Jeans - und dann sein Schuhwerk.
    »Klasse Stiefel!«
    Sie hatte schon immer einen Sinn für bösen Humor. Auch ich betrachtete nun Marcs alte Cowboystiefel, aus gegerbtem Leder, wie es sich gehörte, spitz und mit Absätzen, so wie Neil Diamond sie zu tragen pflegte - und wie eigentlich nur Neil Diamond sie tragen sollte. Marc hatte sie damals allerdings ständig an. Ich hatte vergessen, welchen Geschmack er in puncto Klamotten gehabt hatte - wenn man bei ihm überhaupt von Geschmack reden konnte. Und es ärgerte mich, dass er selbst jetzt noch glaubt, es wäre gar nicht so schlimm gewesen.
    »Beattie fand meine Stiefel toll«, sagt er immer.
    Es muss der Anblick dieser alten Stiefel gewesen sein, in denen später Charlie umherstolzierte, als Vierjähriger, bewaffnet mit Plastikpistole und Cowboyhut. Irgendwann konnte ich sie später entsorgen, endlich, als Charlie herausgewachsen war, auch wenn sie seinem Vater noch gepasst hatten ... Ja, der Anblick dieser lächerlichen alten Stiefel war es, der die erste Welle echter Panik in mir auslöste.
    Ich brauchte Luft. Ich griff nach Marc, packte ihn am Jackenärmel. Meine Stimme war kaum noch ein Flüstern. »Wir müssen hier raus!«, hauchte ich.
    Beattie schaute mich derweil mit großen Augen an, sprachlos - aber nur einen Moment lang.
    »Warte, Annie! wer ist denn dieser Cowboy?« Sie hatte die Hand auf mein Handgelenk gelegt. »Du willst doch nicht etwa mit ihm gehen?«
    Aber dafür war es zu spät, oder? Ich war ja längst mitgegangen.

7
 
    I m kalten grauen Licht von Paris
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