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Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman

Titel: Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
Autoren: Susan Fraser
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dieser Sekunde, weil sonst die Welt untergehen würde, dann sagte ich: »Du musst rückwärts denken. Du musst dir überlegen, wo du ihn zuletzt hattest, immer weiter zurückdenken, bis du ihn findest.«
    »Als ob ich rückwärts gehen würde?«
    »Ja - ein bisschen wie Michael Jackson beim Moonwalk.«
    »Aber was ist, wenn ich oben auf einer Klippe stehe? Wenn ich dann rückwärts gehe und -«
    So fühlte ich mich jetzt - als stände ich auf einer Klippe. Hinter uns gähnte ein großes Loch, und mein Kopf war vollkommen leer.
    Das heißt, ich erinnerte mich doch: Wir hatten einen Tagesausflug nach Toulouse gemacht, um mal rauszukommen, um die Atmosphäre zu bereinigen ...
    Wir hatten uns an den Pont Neuf gesetzt und auf die Garonne geschaut. Vom Wasser her wehte ein kühler Wind, er strich mir das Haar aus dem Gesicht und wirbelte das Laub zu unseren Füßen auf. Und zum ersten Mal seit langem hatten wir ruhig darüber gesprochen, wie es weitergehen solle. Mir war bewusst geworden, dass wir uns wegen unserer Arbeit und Charlie und dem ganzen Chaos mit dem Haus nie Zeit zum Reden genommen hatten - bis zu jenem Tag. Das ist die Ironie dabei: Wir hatten endlich eine Entscheidung getroffen, ohne dass es Drohungen oder Geschrei gegeben hätte, nicht mal Tränen - keinen dieser Wutausbrüche, bei denen ich schrie, ich könne die öde Leblosigkeit des Dorflebens nicht mehr aushalten, und Marc brüllte, er wolle unter keinen Umständen zurück zu Metro, boulot, dodo, in das »hektische, stinkende Rattenloch der Stadt«.
    Aber dieses Mal war es anders gewesen. Es war beschlossene Sache - Charlie und ich würden fortziehen. Und Marc hatte nicht protestiert. »Wir probieren es einfach mal aus ... »un essai, c'est tout«, hatte er gesagt.
    Das Paradoxe daran ist, dass ich in dem Moment, als Marc mich anlächelte, nervös, mit Fältchen um die blauen Augen herum, dachte: Er ist ein netter Kerl, ein richtig netter Kerl. Aber er griff nicht nach meiner Hand und ich nicht nach seiner, als wir dort auf der Bank saßen und auf den Fluss schauten - keiner von uns beiden wollte den Abstand zwischen uns überbrücken.
    Also wandte ich mich ab und blickte zu der alten Steinbrücke hinauf, die über uns schwebte. Mein Blick blieb an einem Pärchen hängen, einem Jungen und einem Mädchen, vielleicht Studenten der Toulouser Universität, die mitten auf dem Pont Neuf standen. Sie lehnten sich über die Brüstung, sahen auf den Fluss hinunter und ließen die Hände über die Mauer schleifen wie Kinder. Der Himmel hinter ihnen wirkte wie ein Gemälde von van Gogh, eine wirbelnde violette Wolkenmasse - dort braute sich das Unwetter zusammen. Das lange Haar des Mädchens wehte dem Jungen wie dunkle, aufgebauschte Seide ins Gesicht. Die kleine Seejungfrau und ihr Prinz, dachte ich. Sie lachten und küssten sich, der Wind peitschte ihr Kleid hoch, während sie sich gegen den jungen Mann lehnte. Von mir aus gesehen verschmolzen die beiden zu einer einzigen Silhouette. Ihre Körper waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Nein, es ist mehr als ein Versuch, dachte ich. Wir wissen beide, dass es dieses Mal viel mehr ist als einfach nur eine Trennung auf Probe. Ich wollte mir in Paris Arbeit suchen, wollte Charlie auf einer anderen Schule unterbringen und es Marc überlassen, das Haus in Lherm fertig zu renovieren. Wir würden sechshundert Kilometer voneinander entfernt leben.
    Wir waren im Begriff, uns zu trennen.
 
    Als Mädchen fand ich einmal beim Staubsaugen unter Mummys Bett ein altes Foto von meinem Vater. Ich hatte das große Bettgestell von der Wand abgerückt, um richtig darunterzukommen, genauso, wie Mutter es mir aufgetragen hatte. »Entweder du machst eine Arbeit richtig«, sagte sie immer, »oder gar nicht.«
    Das Foto hatte sich versteckt, es klemmte hinter der Fußleiste, und nur eine gelbliche Ecke lugte hervor. Zuerst versuchte ich, es mit der Düse herauszusaugen, weil ich es bloß für einen Papierfetzen hielt, der zufällig dort gelandet war. Doch als es sich nicht rührte, schaltete ich den Staubsauger aus, kniete mich hin und zog daran, bis es zum Vorschein trat.
    Ich hatte meinen Vater nie gesehen. Meine Mutter hatte nichts von ihm aufbewahrt. Als ich sie einmal nach dem Grund dafür fragte, wurde sie ganz aufgeregt. »Weil das Haus abgebrannt ist!«, schrie sie. Also fragte ich nie wieder nach ihm. Aber ich wusste sofort, dass er es war.
    Es war eine Nahaufnahme von seinem Gesicht und seinem Oberkörper. Seine Brust
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