Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman

Titel: Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
Autoren: Susan Fraser
Vom Netzwerk:
Jagdsaison die Schüsse durchs Tal krachten. Und als Charlie rief: »Wer ist da?«, sahen Marc und ich uns lächelnd an und fragten uns, was er wohl meinte. Marc rief zurück: »Qui, chéri?«, aber Charlie gab keine Antwort. Vielleicht hatte er Marc nicht gehört. wir allerdings konnten durchaus hören, wie er oben auf den Dielen herumschlurfte. Ich dachte gerade, dass er kaum lange genug geduscht hatte, um sich richtig zu waschen, als er plötzlich die treppe heruntergerannt kam, wobei er wie immer die letzten vier Stufen übersprang - und polternd auf dem Boden landete. Er hatte sich kaum abgetrocknet, sein Haar war tropfnass, und er war nur halb angezogen; er trug nur seine Shorts.
    Wir schauten ihm zu, wie er an uns vorbei zur Haustür lief und dabei auf den Dielen eine Spur aus Fußabdrücken und kleinen Pfützen hinterließ.
    »Was ist denn los, Charlie?«
    Er antwortete nicht. Ich erinnerte mich an sein Schlafwandeln als kleines Kind, wenn er mit offenen, aber glasigen Augen, deren Kristallblau zu einem wolkigen Grau vernebelt war, umherwanderte, ohne etwas zu sehen. Doch jetzt lag seine Hand auf dem Schlüssel im Schloss und drehte ihn herum, wobei die Muskeln seines nackten Rückens mit dem winzigen braunen Muttermal in der Form von Afrika zwischen den Schulterblättern zuckten.
    Mit den Gläsern in den Händen sprangen wir beide gleichzeitig auf und verschütteten dabei Wein auf dem Teppich. Sie waren zu zweit, ein Mann und eine Frau in tadellos gestärkten blauen Uniformen - zwei Polizisten standen draußen vor der Tür, unter dem Glasdach über dem Eingang, auf das der Regen trommelte.
    Sie waren noch jung, insbesondere die Frau - eigentlich noch ein Mädchen, mit straff zurückgekämmtem Haar und runden rosigen Wangen. Offenbar kam sie gerade frisch von der Akademie oder wie auch immer man das in Frankreich nennt. Ich erinnere mich an ihre Augen - sehr dunkel, sehr streng -, doch das mochte auch daran liegen, dass sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf Charlie richtete, ihn regelrecht anstarrte. Obwohl ich mein Glas abstellte und mich an ihm vorbeidrängte, um sie zu fragen, was los sei, starrte sie weiterhin ihn an. Da begriff ich, dass der Mann das Reden übernommen hatte. Ich hätte es wissen sollen. Sie war offensichtlich seine Assistentin, sie war noch so jung und ihre Uniform nagelneu. Der Mann hatte das Zimmer betreten, irgendwie war er an mir vorbeigeschlüpft. Er sprach jetzt mit Charlie. Ich versuchte ihn zu unterbrechen, aber er redete unbeirrt weiter, über mich hinweg, mit einer Hand auf Charlies bloßer Schulter, als sei ich nicht da. Er sprach Französisch, natürlich, und weil ich den Anfang verpasst hatte, konnte ich nicht verstehen, was er sagte. Ich konnte die Worte zwar hören, sie aber beim besten Willen nicht so zusammensetzen, dass sie einen Sinn ergaben.
    Charlies Lippen waren zu einer runden Öffnung erstarrt - zu einem perfekten O -, und dann durchlief ein Schauer seinen Körper, genau wie früher, als er noch ein Baby war, wenn seine Temperatur plötzlich auf neununddreißig Komma acht anstieg und seine Ohren dunkelrot anliefen.
    »Was ist, Charlie? Sag Mummy doch, was dir fehlt. «
    Ich drehte mich zu Marc um. Er stand immer noch wie gelähmt vor dem Sofa, mit dem Glas in der Hand. Allerdings hielt er es ganz schräg, sodass sein Wein auf den Teppich tröpfelte.
    Er hatte alles verstanden.

1
 
    S eit dem haben wir schon viele Male über den genauen Hergang der Geschichte diskutiert. Marc erzählt sie nämlich anders als ich. Aber das war wohl zu erwarten, auch wenn wir zusammen Toulouse durchstreift hatten, gemeinsam im Auto zurückgefahren und wieder zu Hause bei Charlie angekommen waren.
    Jedenfalls glaubten wir das.
    Einig sind wir uns allerdings darüber, dass wir einen schönen Tag hatten - was einerseits von erheblicher Bedeutung, aber andererseits paradox ist. Dieser Tag bildete nämlich das Ende einer ziemlich anstrengenden Woche, in der wir uns über alles und nichts gestritten hatten. In gewisser Weise hatten wir also einen kritischen Punkt erreicht, jenen Augenblick, in dem du dich fragst, wo dein Leben dich eigentlich hinführt - oder, genauer gesagt, wo dein Leben dich hingeführt hat.
    In diesem Punkt widerspricht Marc mir. Er sagt, ich übertreibe comme d'habitude. Darüber hätte er überhaupt nicht nachgedacht. Ich aber wohl. Wir waren aus Australien weggezogen und lebten nun wieder in Frankreich. Allerdings war Frankreich nicht das Problem, sondern der Ort, in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher