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Der Seele weißes Blut

Der Seele weißes Blut

Titel: Der Seele weißes Blut
Autoren: Sabine Klewe
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Prolog

    Angst ist die dunkle Schwester der Liebe. Wie ein Schatten folgt sie ihr auf Schritt und Tritt.
    Sandra Thierse stand am Gartentor und kaute nervös an ihren Fingernägeln. In der letzten Viertelstunde hatte sie beobachtet, wie die Konturen des Waldes immer mehr mit dem Horizont verschmolzen und die Nacht hereinbrach, die hier am Rand der Großstadt nie wirklich schwarz wurde. Die Straßenlaternen gossen trübes Gelb auf den regenfeuchten Asphalt, die Wolkendecke, die den Sternenhimmel verbarg, schimmerte rötlich. Allein der Wald ragte vor ihr auf wie der Eingang zu einer gewaltigen lichtlosen Höhle.
    Irgendwo in diesem gähnenden Loch trieb Jakob sich herum. Hundert Mal hatte sie ihm eingeschärft, rechtzeitig zu Hause zu sein. Nach seiner letzten Verspätung hatte er eine Woche Stubenarrest bekommen, aber das hatte den Jungen nicht davon abgehalten, sich gleich nach Ablauf der Strafe wieder davonzustehlen. Die Verlockungen des Waldes waren unwiderstehlich. Knorrige Kletterbäume. Kaninchenhöhlen. Tausende geheime Verstecke.
    Sandra seufzte. Sie verstand ihren Sohn nur zu gut. Wie gern hätte sie als Kind in einem solchen Paradies herumgetollt, sich einen Unterschlupf aus Ästen und Zweigen gebaut, in dem sie die Prinzessin war, die Herrscherin eines magischen Reiches. Aber sie hatte Angst. Der Wald war nicht nur ein aufregender Spielplatz, er war auch Hort zahlloser Gefahren: frei umherlaufender, angriffslustiger Köter, für die ein fünfjähriger Junge eine leichte Beute war. Oder schlimmer noch, Menschen, die grausame Dinge anstellten mit hilflosen Kindern. Die psychiatrische Klinik war kaum mehr als einen Steinwurf von hier entfernt. Niemand wusste, wer dort alles untergebracht war. Nicht die gefährlichen Fälle, das hatte Daniel ihr versichert, bevor sie hierher gezogen waren. In Grafenberg saßen keine Straftäter ein. Doch möglicherweise waren einige Patienten lediglich noch nicht straffällig geworden.
    »Jakob!«, rief sie in die Dunkelheit. »Jakob, komm sofort her!«
    Endlose Minuten lang geschah nichts. Der rote Kombi der Schröders passierte sie. Erika Schröder glotzte neugierig durch das Seitenfenster. Ein Uhu schrie. In der Ferne klingelte die Straßenbahn. Die Zivilisation war zum Greifen nah. Und doch so fern.
    Da knackte es und eine helle Gestalt tauchte zwischen den schwarzen Stämmen auf.
    »Jakob, na endlich! Du solltest doch längst zu Hause sein.« Sie breitete die Arme aus. Eigentlich sollte sie streng sein, mit ihm schimpfen, doch die Erleichterung, dass er wohlauf war, fegte all ihren Ärger hinweg.
    »Mama, guck mal, was ich gefunden habe!« Er rannte auf sie zu, etwas Langes, Helles schwenkend.
    »Was ist das, ein Stock?« Sie ließ die Arme sinken.
    Er wurde langsamer. »Aber du darfst ihn mir nicht wegnehmen«, forderte er.
    »Wir legen den Stock in den Garten, okay? Dann kannst du morgen wieder damit spielen. Heute ist es zu spät. Jetzt geht es in die Wanne und danach ins Bett.«
    »Das ist aber kein Stock«, maulte Jakob.
    »Was denn dann?«
    Er war fast bei ihr, das Ding in seiner Hand nahm Gestalt an. Sandra stutzte. Dann schluckte sie. »Wo hast du das her?«, stieß sie entsetzt hervor.
    »Nicht wegnehmen!«, schrie Jakob, als sie den Arm ausstreckte. »Das ist meiner. Ich hab ihn gefunden.«
    »Wo hast du das her?«, wiederholte sie.
    »Ausgegraben«, erklärte Jakob. »Zusammen mit Tim. Aber ich hab ihn zuerst gesehen. Er gehört mir.«
    »Wo ist Tim denn?« Beunruhigt heftete sie ihren Blick auf den Waldsaum. Aber da war niemand.
    »Abgehauen. War sauer, weil ich den Schatz gefunden habe und nicht er.«
    »Das ist kein Schatz.«
    »Ist es wohl.«
    »Jakob, gib ihn mir!«
    Er versuchte wegzurennen, doch sie erwischte ihn, entriss ihm den Gegenstand. »Bestimmt ist er von einem Tier«, murmelte sie, doch sie ahnte, dass sie sich irrte.

1

    Zwei Wochen später
    Dienstag, 8. September
    Die Morgendämmerung kroch eben erst über die Hügel. Ein feiner Dunstschleier verbarg das Tal mit der langsam erwachenden Stadt. Es roch nach Moder und feuchtem Laub.
    Ellen Dankert ließ sich in einen gemächlichen Trab fallen. Mit jedem Schritt, den sie sich von der Haustür entfernte, bröckelte Last von ihren Schultern, so als würde sie kleine Gewichte auf dem Waldweg verstreuen. Tief sog sie die kalte Luft ein, bis ihre Lungen brannten. Sie liebte diese Morgenstunde, die einzige des Tages, die ihr ganz allein gehörte. Und das auch nur, wenn Philipp Frühschicht hatte. Dann
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