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Kopfgeldjagd

Kopfgeldjagd

Titel: Kopfgeldjagd
Autoren: Florian Homm
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degeneriert, eine hilflose Seele und Versagerin war, wurde aus der Familie verbannt. Meine Tante Tini durfte ihre eigene Schwester nicht zur Hochzeit einladen, falls sie nicht ebenfalls aus der Familie ausgeschlossen werden wollte. Wer waren Necko und Annemie, dass sie ihre eigenen Stieftöchter beziehungsweise Nichten verbannten und bedrohten? Echte Eltern lieben bedingungslos. Sie erpressen ihre Kinder nicht und schließen sie nicht aus. Ihre Türen und Herzen sind immer offen. Es war keine Überraschung, dass Neckos Erbe nach seinem Tod nicht in sieben gleiche Teile unter allen Kindern aufgeteilt wurde. Vorhersagbarerweise erbten Neckos und Annemies eigene Kinder, Evi, Johannes und Peter, 99 Prozent des Vermögens.
    Emotionale Bedürfnisse wurden regelmäßig ignoriert und potenzielle Skandale unter den Teppich gekehrt. Jeder Hinweis auf ein Problem wurde ignoriert, bemäntelt und nie wieder erwähnt. Die Besessenheit der Neckermanns von ihrem öffentlichen Image ließ keinen Raum für Schwäche und menschliche Unvollkommenheit. Dem vergleichbar ließ mein Streben nach Reichtum wenig Zeit und Energie für die emotionalen Bedürfnisse meiner Frau und meiner Kinder.
    Väterlicherseits sind die Ursprünge meiner Familie weitaus prosaischer und reichen ungefähr 1.000 Jahre zurück. Die Familie, die im Mittelalter angeblich als Waffenträger und Schläger für lokale Raubritter arbeitete, schaffte es, sich eine anständige Existenz als Allround-Handwerker, Klempner und Elektriker zu erkämpfen. Typische Weihnachtsgeschenke von unseren Großeltern waren zwei Paar Socken für jedes Enkelkind. Ihre Verwendung war jedoch stark eingeschränkt, da sie ewige Gefangene im Haus meiner Großeltern blieben und nur getragen werden durften, wenn wir auf Besuch waren. Sobald wir nach Hause fuhren, mussten die Socken bis zum nächsten Besuch an ihre Bewacher zurückgegeben werden. Ich liebte diese Socken.
    Ich erinnere mich an die Beerdigung meines Großvaters Willi, weil ich dabei eine blutige Lippe bekam. Hunderte von Menschen nahmen an der Feier teil, darunter viele alte Nazis. Zahlreiche ältere Frauen weinten, als hätten sie gerade ihren Erstgeborenen an Charles Manson verloren. Meine ältere Schwester Barbara und ich waren Teil der Kondolenzreihe, zu der auch meine Eltern gehörten, die wesentlich jüngere Witwe meines Großvaters (meine Stiefgroßmutter Sophie), die Enkelkinder und einige entferntere Verwandte. Meine Schwester und ich empfanden weder Leid noch Schmerz. Wir waren froh, dass der Alte endlich aus unserem Leben verschwunden war. Tatsächlich kannten wir ihn zu gut, als dass wir ihn betrauert hätten. Er hatte versucht, das Erbe meines Vaters an sich zu reißen, war ein fürchterlicher Geizkragen und hatte nie ein freundliches Wort für irgendjemanden, der gesellschaftlich unter ihm stand. Er verkaufte neue Waschmaschinen, aus denen er den neuen Motor ausbaute und durch einen gebrauchten ersetzte, wobei er den neuen Motor behielt. Wenn die Waschmaschine kurz nach Auslieferung kaputtging, berechnete er dem Kunden den Einbau des neuen Motors plus eines saftigen Installationszuschlags. Der Mann war ein Betrüger in Kleinformat – ganz anders als ich.
    Ich betrachtete die ganze Szene als eine gigantische Komödie. Alle lokalen Hyänen waren erschienen, um ihrer Leithyäne die letzte Ehre zu erweisen. Was mir mehr als alles andere auf die Nerven ging, waren die Trauermienen und die herzergreifenden Händedrücke. Es fiel mir schwer, ein Pokerface zu machen. Während ich die Menge ungläubig anstarrte, wandte sich meine Schwester zu mir, zwickte mich in den Arm und flüsterte mir zu: »Reiß dich zusammen und hör auf, so pietätlos zu sein. Zeig den Schmerz, den du in deinem Innern fühlst und lass deinen Tränen freien Lauf, Florian.« Währenddessen erzählte uns der Pfarrer, dass Willis grenzenlose Großmut und seine Energie unser aller Leben bereichert hätten. Barbara bewegte sich nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt und sagte: »Weine für Willis verlorene Liebe. Er stand für das, was an uns Deutschen am besten ist: Disziplin, Organisation, Gehorsam, Muskeln so hart wie Kruppstahl, schnell wie der Blitz und zäh wie Leder.« Sie zitierte einen Spruch aus einer Rede Hitlers, die er 1935 vor der Hitlerjugend in Nürnberg gehalten hatte. Mit ihrem Spott traf sie den Nagel auf den Kopf. Willi hatte Jahre in französischen Kriegsverbrecherlagern verbracht, bevor er nach dem Krieg schließlich
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