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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser
Autoren: André Kubiczek
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Meldung des Polizeitickers wieder ein. Der Tatort lag keinen Kilometer Luftlinie von seinem Schreibtischstuhl entfernt.

2.
    Henry war siebenundzwanzig gewesen, als er Bettina traf. Er hatte gerade sein Studium abgeschlossen und trotz eines möglichen Stipendiums das Angebot seines Professors zu promovieren abgelehnt. Stattdessen bewarb er sich bei einer überregionalen Tageszeitung als Volontär. Für das Vorstellungsgespräch kaufte er sich einen schmal geschnittenen Anzug und ein kariertes Button-down-Hemd. Am Morgen fuhr er mit der Straßenbahn in die Friedrichstraße, wo sich das Redaktionsbüro befand. Er erklärte der distinguierten Dame am Empfangstresen sein Anliegen. Er war dabei nicht aufgeregt, er hatte kein Lampenfieber, nichts. Die Dame telefonierte kurz und bat ihn, Platz zu nehmen. Noch ehe er sich hingesetzt hatte, ging eine Tür auf, und der verantwortliche Redakteur kam ihm entgegen. Er taxierte mit Zehntelsekundenblick Henrys Äußeres, setzte dann ein Lächeln auf und öffnete sogar leicht die Arme zum Willkommen. Er war nicht mehr jung, aber er wirkte durchaus jugendlich. Sie gaben einander die Hand. Auch der Redakteur trug einen taillierten Anzug und ein Button-down-Hemd. Und er trug keine Krawatte dazu, genau wie Henry.
    Henry bekam die Stelle.
    Das Ressort, für das er schreiben sollte, hieß »Lifestyle & Kunst«. Henry wusste nichts über Kunst und über Lifestyle eigentlich auch nichts, doch Letzteres erachtete er nicht als Problem. Er begann, Ausstellungen zu besuchen, vornehmlich in den Galerien der Spandauer Vorstadt, die Arbeiten jüngerer Künstler präsentierten. Er abonnierte Kunstzeitschriften und wälzte in Bibliotheken Bildbände: Höhlenmalerei, klassische Moderne, Videokunst, selbst amerikanische Land-Art der Siebzigerjahre. Er las kunsttheoretische Abhandlungen und verabredete sich mit freiberuflichen Kritikern und Kuratoren zum Abendessen.
    Nebenbei verfasste er die ersten Lifestyle-Artikel, die sich lediglich in dem Quantum an Ironie und dem Grad des Nihilismus, der dieser Ironie als Grundlage diente, von Henrys späteren Texten unterschieden. In dieser frühen Phase testete er, wie weit er gehen konnte, wie weit sich der Ton aufdrehen ließ, bevor sein Chef eine seiner kumpelhaften Rügen austeilte.
    In einem Stadtmagazin las Henry von einer PR-Aktion junger Künstler, die sich »Tag des offenen Ateliers« nannte. An einem sommerlichen Sonntag durchkämmte er mit anderen Neugierigen, die Hälfte davon Touristen mittleren Alters – eine Stadtmarketingfirma sponserte die Aktion –, zwei Handvoll Ateliers in Kreuzberg, in Weißensee und selbst in den Außenbezirken von Köpenick.
    Es war überall gleich: Die Künstler saßen nervös an ihren aufgeräumten Zeichentischen. In den Ecken standen Skulpturen, an den Wänden hingen Skizzen, Pläne für Installationen, Bilder in Öl oder Tempera. Die Künstler schenkten Kaffee aus und Wein, boten Kuchen und Kekse an. Sie wirkten freundlich und aufgeschlossen, doch man sah ihnen die Erfolglosigkeit an. Anders als vermutet waren die meisten älter als Henry, im Schnitt zehn Jahre, schätzte er.
    Henry hatte keine Ahnung, was sie sich von der Aktion versprachen, warum sie Horden fremder Leute durch ihr Heiligstes, das Atelier, schleusten, woher sie die Kraft nahmen, wieder und wieder Touristen in Multifunktionskleidung den kunsthistorischen Kontext zu erklären, in dem ihre eigenen Arbeiten stünden.
    Es machte Henry einigermaßen ratlos, sie derart hoffnungslos hoffen zu sehen: auf einen spontan hereinschneienden Käufer, auf einen Galeristen, der sie vertreten würde. Nach fünf Ateliers hatte Henry genug. Er beschloss, nur noch das eine zu besuchen, das ohnehin auf seinem Heimweg lag.
    In diesem letzten Atelier gab es nichts zu sehen. Auf dem Zeichentisch standen ein halb voller Aschenbecher und ein Minibarkühlschrank, der leise brummte. Die Arbeiten, sofern es welche gab, mussten hinter einem Stoffvorhang verborgen sein, der mitten durch den Raum gespannt war. Henry sah sich suchend um. Dann hörte er ein Lachen, der Vorhang schob sich ein Stück zur Seite, und die Künstlerin trat heraus. Sie hielt eine Bierflasche in der Hand.
    Â»Willst du auch eines?«, fragte sie und deutete auf den Kühlschrank.
    Â»Gerne«, sagte Henry.
    Sie gab ihm ein Bier, und er stieß mit Bettina an.
    Nur wenige Leute
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