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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt
Autoren: David Albahari
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Frau, die Augen zu schließen, und feuerte die zweite Kugel ab. Der Soldat glitt an der Wand herunter und riss die Frau mit sich. Sie gewann ihre Stimme wieder und begann aus vollem Hals zu kreischen. Dann kroch sie zum anderen Ende des Zimmers, wo das blutverschmierte Mädchen lag. Dieses zuckte zusammen, als die Frau es berührte, und befreite sich erst von den Beinen des Soldaten, die wie Papierbeschwerer über den ihren lagen. Der Kommandant wandte den Blick von der Frau und dem Mädchen weg, drehte sich um und ging zurück in den Obstgarten. Er sagte niemandem etwas, befahl aber den Soldaten, mit dem Pflücken aufzuhören und den Marsch zum Kontrollpunkt fortzusetzen. Die tägliche Routine bei der Arbeit am Kontrollpunkt und die immer schnellere Aufeinanderfolge von Ereignissen trugen jedoch dazu bei, dass manches Erlebte, zumal während der Hinfahrt, fast völlig in Vergessenheit geraten war. Und so stand der Kommandant jetzt da und kramte in seinen Erinnerungen, als wäre er zwanzig Jahre und nicht nur einen Monat und ein paar Tage mehr oder weniger weg gewesen. Er schaute noch einmal auf den halb abgenagten Körper des Kochs, bückte sich dann und betastete, den Zeichen folgend, von denen allein er wusste, einen Stein am Anfang des schmalen Pfads – falls der Weg richtig war, mussten auf dem Stein drei Vertiefungen zu fühlen sein. Der Kommandant fand sie, richtete sich daraufhin auf, machte noch drei ungleich große Schritte, schloss die Augen und drehte sich um die eigene Achse. Als er die Augen wieder öffnete, stand er vor einer verschlossenen himmelblauen Tür. Er drückte die Klinke herunter und betrat die Wohnung. Er machte einen Rundgang, schaute in jedes Zimmer, ins Bad und in die Diele. Alles war so, wie er es verlassen hatte, obwohl eigentlich alles anders war. In der Küche wusch er sich die Hände und suchte die Dose mit den Keksen und Neapolitaner-Waffeln. Er roch nach Schmutz und Schweiß, beschloss aber, sich mit dem Duschen noch Zeit zu lassen. Er ging ins Wohnzimmer, nahm die Fernbedienung und setzte sich in einen Sessel. Er drückte auf den roten Knopf, der Fernseher ertönte und auf dem Bildschirm erblickte der Kommandant sich selbst. Wieso ich dort, fragte er, und wie das? Die Moderatorin lächelte ihn an. Ganz einfach, sagte sie, wir bemühen uns, in unmittelbarer Nähe unserer Zuschauer zu sein und ihnen möglichst jeden Wunsch zu erfüllen. Der Kommandant lachte: Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass jemand den Wunsch hatte, mich zu sehen. Er wandte das Gesicht zur Zimmerdecke und schnupperte hörbar die Luft. Die Moderatorin fragte ihn besorgt, ob alles in Ordnung sei. Natürlich, entgegnete der Kommandant und erklärte, dass er auf diese Weise festzustellen versuche, ob sich zufällig Feinde in der Nähe befänden. Und das tun Sie so, wollte die Moderatorin wissen, mit der Nase? Der Kommandant schaute sie an: Die Moderatorin hatte den kürzesten Rock und die längsten Beine, die er je gesehen hatte. Die, sagte er, riechen anders als wir. Die Moderatorin strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte: Die waschen sich wohl nicht. Nein, pflichtete der Kommandant ihr bei, sie waschen sich überhaupt nicht, und Deospray benutzen sie auch nur selten. Die Moderatorin setzte an, etwas zu sagen, wurde aber von einer Stimme aus der Regie unterbrochen. Wir hatten eine kleine Panne, in zehn Sekunden geht es weiter! Sind Sie bereit? Ja? Also los! Die Moderatorin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte: Unser heutiger rätselhafter Gast ist soeben von der Front zurückgekehrt. Das war nicht der erste Krieg, an dem Sie teilgenommen haben, nicht wahr? Worin unterscheidet sich dieser Krieg von den bisherigen? Der Kommandant fuhr sich ebenfalls mit der Zunge über die Lippen, legte seine Stirn in Falten und sagte nachdenklich: In vielen Dingen. Der Krieg da vor zum Beispiel war ein frontaler Krieg mit schweren und langen Kämpfen unter Einsatz von Panzereinheiten und der Luftwaffe. Dieser jetzt ist viel kleiner und einem Guerillakrieg viel ähnlicher, was heißt, dass er weitaus billiger und damit weniger spektakulär und interessant für die Medien ist. Die Moderatorin warf einen Blick auf das Blatt, das in ihrer Hand zitterte, und verkündete: Hier haben wir schon die erste Frage einer Zuschauerin … Sie möchte nämlich wissen, ob die Soldaten oft fluchen, und wenn das stimmt – man habe ihr jedoch versichert, dass es stimme –, was die Befehlshabenden dagegen
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