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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt
Autoren: David Albahari
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keinesfalls abwegiger Gedanke, ging es dem Kommandanten durch den Kopf. Grausamkeit ist manchmal leider nötig, um Zugang zur Zärtlichkeit zu finden, aber im Falle seiner Einheit ging es keineswegs um Zärtlichkeit, da hatte sich vielmehr irgendein Militärbürokrat eine Untersuchung darüber ausgedacht, wie Soldaten auf eine plötzlich veränderte Haltung des Gegners reagieren (das heißt, wenn der Verbündete zum Feind wird und umgekehrt). Was in der Realität geschehen, war nicht das Ergebnis oder vielmehr die Folge früherer Ereignisse in ebendieser Realität, sondern eine Art fiktive Realität, ein strategisches Spiel wie etwa das »Schiffeversenken«, aber immer im Konditional, immer wie eine Frage in der Art »Was wäre, wenn«, was an sich allein noch keine besondere Aufmerksamkeit erregt, vor allem wenn man es mit dem Medienrummel vergleicht, den verschiedene Pop- und Rockstars schon bei einem kurzen Auftritt in einem Armeezentrum oder in einem Erholungsheim verursachen. Mit echten Menschen zu experimentieren, die Leichen jener, die zu wenig oder vielleicht zu viel Glück hatten, zu analysieren und zu bewerten, war hingegen etwas ganz anderes, obwohl es auf dasselbe hinauslief. »Er hatte« und »er hatte nicht« sind zumindest in diesem Fall äußerst austauschbare Begriffe, man muss lediglich aus Gründen des Stils darauf achten, dass sie in einem Satz nicht drei- oder viermal vorkommen. Ob der Satz dann etwas mit einer Zollprüfung oder mit der Suche nach neuen Büchern oder neuen Autoren zu tun hat, ist weniger wichtig. Bei manchen Sätzen kann man natürlich nichts machen, die bleiben so, wie sie sind, wie etwa die: »Wir mussten noch zwei Soldaten mehr einsetzen, aber dadurch änderte sich nichts. Damit wurde das unvermeidbare Ende nur aufgeschoben. Ursprünglich dachten wir zwar nicht an Hunde, weil es uns noch nicht gelungen war, einen entsprechenden Pfad freizuschlagen, und meinten zunächst, als wir sie hörten, es seien blökende Schafe, die in der Herde dahintrotteten, aber als wir deren Leistung und den geringen Abfall sahen (allerdings unter der Voraussetzung, dass die Zeit zum Verstehen der Geschichten verlängert würde), erkannten wir, dass wir weitergehen konnten und durften.« Der Kommandant presste seinen Kopf fest zwischen die Hände in der Hoffnung, der Schmerz würde ihn wach machen, aber er spürte keinen Schmerz, alles war dumpf und diffus wie ein Licht im Nebel. Dann fiel ihm wieder der Koch ein. Wann mochte er sie alle überholt haben, wann hatte er es geschafft, den Hang hinaufzuklettern, und woher hatte er überhaupt von diesem Übergang und höchstwahrscheinlich auch vom Tunnel unter dem Fluss sowie von den seitlichen Abzweigungen gewusst, also von all jenem, was in einem Ordner stand, den man ihm, dem Kommandanten, ausgehändigt hatte und auf dem mit roten Buchstaben TOP SECRET stand, was ihn übrigens immer wieder ärgerte, weil er nicht verstehen konnte, wieso man dafür nicht Worte in unserer Sprache gebrauchte wie STRENG GEHEIM oder vielleicht unpassend: GEHEIMNIS DER GEHEIMNISSE ? Wie auch immer, damals hatte er sich doch entschieden, das Angebot anzunehmen und die handverlesene Kompanie zum Kontrollpunkt zu führen. Dieser war, wie bereits gesagt, kein neues Objekt. Es war ein seit vielen Jahren benutztes Gebäude mit Mannschaftsräumen, einem Vortragsraum, einer Küche, einer Speisekammer und einem kleinen Zimmer für den Kommandanten. Das Zimmer war wirklich klein, aber ihm reichte es. Er störte sich nur daran, dass er kein Bad und keine Toilette für sich allein hatte, aber die Soldaten hielten das Gemeinschaftsbad sauber, und der Kommandant suchte es oft auf, um den Duft des Raumerfrischers einzuatmen. Es war uns bewusst, dass der Kommandant mit seinen Lobgesängen ein wenig übertrieb, sie wirkten in der Tat wie Werbeschlager für Wochenendhäuser, aber wir wussten, dass es nicht so war. Dem Kommandanten gefiel der Kontrollpunkt nämlich wirklich, und er konnte sich vorstellen, dort zu leben, natürlich nicht im Krieg, sondern in Friedenszeiten. Dort, inmitten von Tannenwäldern, würde er frei atmen, dort wäre alles friedlich, verlangsamt, fast schwerelos, jederzeit bereit, sich in die Lüfte zu schwingen. Dies alles aus der Höhe zu sehen, dachte der Kommandant, wie entzückend das doch wäre! Er stellte sich dieses Bild vor, in dem die Geometrie die Hauptrolle spielte, indem sie aus einem Wald ein längliches Viereck machte, aus den Äckern ein buntes
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