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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt
Autoren: David Albahari
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Schachbrett, die Berge in Kegel verwandelte und den Fluss in eine Schlangenlinie, die danach strebte, eine Gerade zu werden. Ja, dachte der Kommandant, manche Wünsche gehen nie in Erfüllung. Dasselbe hatte er am ersten oder zweiten Abend nach der Ankunft am Kontrollpunkt gesagt. Der Abend war schön, der Himmel voller Sterne, die Soldaten waren müde nach der Fahrt und dem Einzug in das neue Objekt, vor ihnen knisterte ein kleines Feuer aus trockenen Gräsern, Reisig und verschiedenen Blättern. Ein, zwei Schritte vom Feuer entfernt begann die Dunkelheit, und der Kommandant sagte, er habe schon immer davon geträumt, aus der Welt des Lichts in die Welt der Dunkelheit zu wechseln, habe jedoch nie den Mut gehabt, es zu versuchen. Ein Soldat hob träge den Kopf und fragte ihn, warum er es nicht jetzt probiere, er brauche nur ein paar Schritte zu machen. Und, fügte ein anderer hinzu, zu beschließen, nie mehr zurückzukommen. Der Kommandant wehrte sich, aber die Soldaten gaben nicht nach, sie feuerten ihn an, halfen ihm aufzustehen und drehten ihn zum Feuer hin. Erst als sie die starke Hitze in der Luft spürten, ließen sie von ihm ab. Sich selbst überlassen, machte der Kommandant noch zwei kleine Schritte, dann einen größeren über die Flamme und ging weiter, bis er sicher war, ganz in die Dunkelheit eingetaucht zu sein. Er drehte sich um und sah klar wie durch ein Vergrößerungsglas die Soldaten, die angestrengt in die Dunkelheit starrten. In dem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er die Entscheidung, nie mehr zurückzukehren, leicht treffen könne. Niemand von uns war sicher, was eine solche Entscheidung wirklich bedeutet hätte und ob man überhaupt auf diese Weise weggehen könne. Auf keinen Fall wollten wir, dass jemand auf den Gedanken käme, wir hätten ihm eine andere Entscheidung aufgezwungen. Er alleine hatte so entschieden, ja und ob, und er alleine würde die Verantwortung für alles tragen, was ihnen und ihm widerfahren sollte. Schließlich war er von alleine aus der Dunkelheit wieder zurück ins Licht getreten, und man sah, dass er voller Überzeugung gegen die Dunkelheit kämpfte, die an ihm haftete und ihn nicht loslassen wollte. Wer weiß, was sich ergeben hätte, wenn ein Soldat nicht mit seinem Bajonett herbeigeeilt wäre und all die feineren und gröberen Fäden der Dunkelheit durchtrennt hätte, die sich wie Blutegel am Rücken, an den Armen und Beinen des Kommandanten festgesaugt hatten. Wir hörten alle, wie da die Dunkelheit vor Schmerz winselte, aber das war, wie wir alle laut feststellten, so etwas wie der Gesang, mit dem die Sirenen den Odysseus betören wollten und dem keiner nachgeben durfte, weil er sonst nie mehr das Licht des Tages gesehen hätte. Deshalb drehten wir uns alle schnell um und stopften dem Kommandanten die Ohren zu. Unseren Odysseus geben wir nicht her, hörte man es unter den Soldaten raunen, und viele rührte das Gefühl der Einigkeit zu Tränen. Der Kommandant gestand, schon lange nicht mehr so viel menschliche Nähe und Verständnis gespürt zu haben, umso bedrückender empfand er all jenes, was auf dem unglückseligen steilen Hang geschehen war, der zum Kontrollpunkt hin- beziehungsweise vom Kontrollpunkt wegführte, je nachdem, an welcher Seite der Schranke man stand und in welche Richtung man blickte. Der Kommandant schniefte und sah mit tränenerfüllten Augen um sich. Aber was war eigentlich geschehen, war denn überhaupt etwas geschehen und kann es noch einmal geschehen – auf all diese Fragen fand der Kommandant keine richtige Antwort. Ihn bedrängten übrigens noch so viele ungelöste Fragen, dass er unter deren Last kaum noch zu gehen vermochte. Man könnte sogar sagen, dass er nicht ging, sondern wie eine Ente watschelte. Das ließ ihn an die Peking-Ente denken, die der Kompaniekoch einmal zubereitet hatte – etwas so Köstliches hatte er noch nie gegessen. Der Kommandant konnte das Bild der gebratenen Ente nur schwer mit dem Anblick der Leiche auf dem Hang unterhalb des steinigen Gipfels in Einklang bringen. Die Leiche hatte ausgesehen, als wäre dieser Mensch im Leben zu nichts fähig gewesen, und da musste der Kommandant an die anderen jungen Toten denken, an die Trauer, die sich von ihnen in alle Richtungen ausbreitete und mit jedem weiteren Tod größer und schwerer wurde, bis sie am Ende niemand mehr von der Stelle bewegen konnte. Und so lag sie da wie durchsichtiges Harz oder wie Grind auf dem Antlitz der Welt, jeder Klärung des Geheimnisses
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