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Weißer Mann mit Brille

Weißer Mann mit Brille

Titel: Weißer Mann mit Brille
Autoren: Georges Simenon
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1
    »Hast du gehört, Georges?«
    Der Ehemann, ein Glas Bier in der Hand, zuckte zusammen.
    »Was?«
    »Ferdinand sagt, das einzige Mittel gegen den Durst ist siedendheißer Tee …«
    »Ich weiß!«
    »Warum trinkst du dann Bier?«
    »Weil ich keinen Tee mag!«
    »Das ist heute schon die vierte Flasche …«
    »Frag ich dich denn, wie viele Zigaretten du geraucht hast?«
    Ferdinand Graux wandte den Kopf ein wenig zur Seite, unterdrückte ein Lächeln. Da begegnete er dem belustigten Blick des alten Engländers aus Nairobi, woraus er entnahm, daß dieser Französisch verstand.
    Wo hatte sich diese Szene wegen des Tees eigentlich abgespielt? Schon jetzt mußte er nachrechnen. Wenn man seine Gedanken nicht in Zucht nahm, hatte man den Eindruck, daß dieses Leben schon viele lange Tage währte, dabei hatte es erst am Vortag begonnen, allerdings um zwei Uhr morgens.
    Der Streit wegen des Tees, das war in Assuan gewesen. Aber diesem Auftritt war schon ein anderer in Kairo vorangegangen, wo sie sich um das Trinkgeld gezankt hatten.
    »Hast du gehört, Georges?«
    Schon dort schien der Ehemann aus einem Traum aufzuschrecken:
    »Was?«
    »Ferdinand sagt, daß man kein Trinkgeld zu geben braucht. Alles ist im voraus bezahlt, auch das Essen und die Hotels …«
    Doch Ferdinand war schon geraume Zeit vor der Flugreise auf das Ehepaar aufmerksam geworden. Eine Stunde, bevor das Schiff in Marseille auslief, hatte er diese kleine, magere, quirlige Person an Bord gehen sehen, gefolgt von einer schnaufenden Mutter und einem biederen Mann im Sonntagsanzug, dem Papa.
    Den Ehemann hatte er nicht gleich zu Gesicht bekommen. Er hatte wohl im Büro des Zahlmeisters zu tun. Die kleine Person aber traf man überall an, in den Gängen, den Aufenthaltsräumen und den Rauchsalons, denn sie bestand darauf, ihren Eltern das ganze Schiff zu zeigen.
    Alle drei hatten beim Abschied geweint. Einen Augenblick lang hatte Graux geglaubt, die kleine Person sei die Frau eines Marineoffiziers der Kolonialtruppen, die auf Grund ihres Ranges Kabinen ersten Ranges zugeteilt bekommen.
    Dann folgte eine Lücke in seiner Erinnerung. Er hatte sich nicht mehr mit ihr befaßt. Graux, der seine Ruhe liebte, pflegte sich an Bord auf dem Bootsdeck hinter irgendeinem Schornstein niederzulassen und dort stundenlang zu lesen. So war ihm von den ersten beiden Tagen nichts anderes im Gedächtnis geblieben als die dreihundert Seiten des Bandes Statistiken zum besseren Verständnis der Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit.
    Wie hatte er eigentlich wieder Kontakt aufgenommen? Ja, so war’s! Während er las, hatte sich die kleine Person hinter ihm aufgepflanzt. Sie trug einen nagelneuen Tropenhelm, obwohl sie noch im Mittelmeer kreuzten und es erst Mai war.
    »Na, so was!« hatte sie ausgerufen. »Jetzt verstehe ich, warum Sie so finster dreinschauen, wenn Sie immer solche Bücher lesen.«
    Und als sie der Zahlenkolonnen ansichtig wurde:
    »Sind Sie denn auch Buchhalter?«
    Graux hatte den Kopf geschüttelt.
    »Was sind Sie dann also von Beruf?«
    »Ich habe eine Kaffeeplantage.«
    »Das ist doch nicht die Möglichkeit!«
    Er stellte sich vor, wie sie zu ihrem Mann rannte, der auf der Terrasse der Bar mit den Offizieren Karten spielte, und heraussprudelte:
    »Weißt du was, Georges … Der Mann, der mit niemandem spricht … Rate mal, was er macht …«
    Sie war eine etwas mickrige Großstadtpflanze und mochte etwa neunzehn oder zwanzig Jahre zählen. Sie wußte nicht, was sie an Bord mit sich anfangen sollte, sie kam nirgends zur Ruhe. Ihr Mann trug bereits die weiße Uniform der Kolonialbeamten und spielte meist Belote. Die eleganteren Passagiere trafen sich zum Bridge und blieben unter sich.
    Sie durchstreifte das Schiff vom Oberdeck bis in die Laderäume, sprach Matrosen und Offiziere an. Sie langweilte sich. Am Abend des vierten Tages überredete sie den Zahlmeister dazu, auf Deck eine Tanzerei zu veranstalten, doch Graux ging schlafen.
    Als sie sich in Alexandria ausschifften, hätte die Bekanntschaft eigentlich zu Ende sein müssen. Ohne einen Blick für die Träger, die sich auf dem staubigen Kai drängten und ihn am Ärmel zerrten, bestieg Graux kurzerhand den Wagen der Imperial Airways.
    Zu seiner Überraschung hatten die kleine Person und ihr Mann schon darin Platz genommen.
    »Fliegen Sie auch mit unserem Flugzeug?«
    Es war doch wohl eher sein Flugzeug, denn schon seit sechs Jahren flog er alljährlich in beide Richtungen.
    »Ich habe Ihnen meinen Mann noch
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