Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weißer Mann mit Brille

Weißer Mann mit Brille

Titel: Weißer Mann mit Brille
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
blickte sie mir entgegen, und ich wußte, daß sie ihre Fingernägel in ihre Handfläche bohrte … Dann sagte sie sehr leise, mit flehender Stimme:
    Please!
    Ja, das war alles … Sie bat mich einfach, keine Bewegung zu machen, nicht das Wort auszusprechen, das alles hätte verändern können …
    Wenn ich in diesem Augenblick gewollt hätte …
    Eine halbe Stunde darauf faßte sie im Hotelbüro ein Kabelgramm ab … Was sie damit bezweckte, wurde mir bei unserer Ankunft in Alexandria klar, wo ein Wasserflugzeug sie erwartete! …
    Ich weiß nicht, warum ich mich dort eingeschifft habe … Es mußte wohl einfach so sein …
     
    Die beiden Männer, über die Lohnstreifen gebeugt, lauschten auf jedes Geräusch.
    Der Raum wurde nur durch die Tischlampe beleuchtet. Man hörte den Regen, der zu dieser Jahreszeit jeden Abend einsetzte. Ferdinand blickte in die verängstigten Augen Camilles.
    »Sie hat noch nicht alles gelesen …«, flüsterte er.
    Er spürte, was im Zimmer vor sich ging. In Gedanken versuchte er ihrer Lektüre zu folgen.
     
    5. Juni. – Ich frage mich, was geschehen würde, wenn ich nicht ein instinktives Verlangen nach Ausgewogenheit und Harmonie hätte. Was wäre, wenn dies zum Beispiel einem Mann wie Bodet widerführe? Was hat mich nur dazu getrieben, um jeden Preis nach Istanbul kommen zu wollen?
    Das erstaunlichste ist, daß ich einer Selbsttäuschung erlegen bin. Ich war davon überzeugt, daß das Verhängnis nun seinen Lauf nehme, daß ich unweigerlich auf eine Tragödie zusteuerte, in welcher Form auch immer … Mitunter gingen mir fürchterliche Gedanken durch den Kopf, ja ich sah mich schon als Massenmörder.
    Ich traute mir sogar zu, immerfort in ihrem Kielwasser zu leben und sie Tag für Tag dazu zu zwingen, mir zu sagen:
    Please! …
     
    Ein Zwischenraum. Dann, am 6. Juni – die Schriftzüge wirkten schon weniger fahrig – nur die zwei Wörter:
     
    Romantische Schwärmerei!
     
    Drei Tage ohne Eintragung.
     
    9. Juni – Heute morgen habe ich sie im Wagen ihres Mannes gesehen. Sie hat nichts bemerkt. Aber seit jenem Moment in Khartum bin ich ganz sicher, daß auch sie eine Sekunde lang nahe daran war …
     
    Mit Riesenlettern schrieb er nochmals:
     
    Romantische Schwärmerei!
     
    Dann fuhr er in seinem Bericht fort:
     
    Ihr Sohn ist der schönste Junge der Welt! Morgen gibt sie für das diplomatische Corps eine Teegesellschaft. Wenn mein guter Camille mich hier sähe … Und mein Däumling, mein braver Elefant! Wenn er sich krank fühlt, versucht er auszubrechen, um sich im Busch zu verkriechen. Ich bin ein krankes Tier. Ich rasiere mich nicht mehr. Ich rieche schlecht. Die Hotelangestellten sehen mir voller Besorgnis nach, und vielleicht befürchten sie, daß ich etwas Schlimmes im Schilde führe.
    Bestimmt hat es auch im Leben großer Männer Augenblicke gegeben, in denen sie wie kranke Tiere waren, übel rochen und Dinge dachten, die ihnen später die Schamröte ins Gesicht trieben …
    Ich empfinde geradezu Wollust. Ich tue nichts. Gestern lungerte ich mit den Gaffern eine halbe Stunde lang um ein Auto herum, das in ein anderes hineingefahren war, und ich mußte mich direkt dazu zwingen, an sie zu denken.
     
    14. Juni – Die Erinnerung an das, was sich auf der Farm zugetragen hat, ich meine, was sich auf sie bezieht, schmerzt kaum noch. Ich sehe die Dinge jetzt recht nüchtern. Da fällt mir zum Beispiel ein, daß es beim ersten Mal wegen ihres verletzten Beins zu einer recht komischen Situation kam.
    Aber ihr please geht mir nicht aus dem Sinn … Ich versuche, es mir mit ihrem Akzent vorzusagen, mir den Geruch des nahenden Sandsturms zu vergegenwärtigen …
    Bin schon ein Blödian!
    15. Juni – Nein, Komödiant wäre zutreffender! Heute morgen hatte ich eigentlich Lust, mich zu rasieren, aber ich habe es absichtlich nicht getan! Dann bin ich um ihr Haus herumgestrichen, in der Hoffnung, daß sie mich in diesem Zustand sehen würde. Warum nur? Gestern hat sie in der polnischen Botschaft zu Abend gegessen, und in den Zeitungen stand, daß sie ein Diadem trug.
    Sei’s drum! Ich bin noch ein wenig krank …
    16. Juni – Ich fange an zu glauben, daß Sir James recht hat. Arme Mary, die nicht ohne ihre Zigaretten, ihr Opium und ihre Weltreisen leben kann! … Ich habe mich rasiert. Aber ich sollte vor meiner Rückkehr in Kairo Station machen … Ich fürchte mich ein wenig vor der Einsamkeit dort unten und vor einem möglichen Rückfall …
    Wie dem auch sei! Romantische
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher