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Weißer Mann mit Brille

Weißer Mann mit Brille

Titel: Weißer Mann mit Brille
Autoren: Georges Simenon
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gelebte Wirklichkeit verzerrten.
    »Wissen Sie, weswegen sie Streit hatten? Im übrigen wird die Anklage mit dem Tod des Mörders hinfällig. Dieser Bericht hat eher moralischen als juristischen Charakter.«
    »Ich weiß sonst nichts«, seufzte sie. »Sie verstanden sich eben nicht … Sie waren am Ende … Kann ich jetzt zu Yette gehen?«
    Der Pater erhob sich, legte seine Pfeife behutsam auf ein Regal und ging auf Zehenspitzen ins Nebenzimmer. Nach einer Weile öffnete er die Tür einen Spalt breit und bedeutete Emilienne einzutreten.
    Sie sah nur die Augen, Augen, deren Farbe, grau mit goldenen Sprenkeln, ihr vorher nicht aufgefallen war. Es waren ganz außergewöhnliche Augen, und sie vermochte ihrem Blick nicht standzuhalten.
    Denn Yette, das Gesicht mit einem weißen Verband verhüllt, blickte sie unverwandt an, als versuchte sie ihr alles zu sagen, was ihr zugestoßen war. Zugleich bewegte sie sich ein wenig. Der Missionar war im Zimmer geblieben. Emilienne, die nicht wußte, was sie solchen Augen antworten sollte, verbarg das Gesicht in den Händen, um zu weinen.
    »Beruhigen Sie sich … Man darf sie nicht ermüden«, murmelte der Pater und faßte sie leicht am Arm.
    Sie verließ den Raum, ohne ein Wort gesagt zu haben. Costemans setzte sie ins Bild:
    »Sie liegt seit gestern so da. Sie redet nicht. Vielleicht ist ihr auf Grund der Gehirnerschütterung das Sprachvermögen abhanden gekommen … Der Doktor wird morgen zurück sein und sie daraufhin untersuchen …«
    Er sprach weiter, doch nun legte er jedes Wort auf die Goldwaage:
    »Vielleicht wird die Rede auf die Mißstimmung zwischen Bodet und mir kommen. Wenn ich aus menschlichen Erwägungen die notwendigen disziplinarischen Maßnahmen nicht hinausgeschoben hätte, wäre es sicher nicht zu dieser Tragödie gekommen. Meine Frau ist bettlägerig. In der Stillzeit könnte jede zusätzliche Aufregung schwerwiegende Folgen haben …«
     
    Natürlich war wieder kein Telegramm für sie da! Je länger Emilienne auf der Straße dahinfuhr, die auf beiden Seiten von der monotonen Buschlandschaft gesäumt wurde, desto niedergeschlagener fühlte sie sich. Genauer gesagt, sie spürte, wie eine Art von Übelkeit in alle Fasern ihres Wesens einsickerte, so wie sich das trübe Licht über den ganzen Himmel ausgebreitet hatte.
    Sie spürte keinen Schmerz, aber ihr Leib, ihr Fleisch waren wie erschlafft. Wenn ihr plötzlich das Benzin ausginge, würde sie vielleicht stundenlang gleichgültig am Straßenrand sitzenbleiben.
    Wozu das alles?
    Sie fuhr langsam. Sie wurde von einem scheppernden Auto überholt. Es war das vorsintflutliche Vehikel von Macassis, der sich aus dem Wagenfenster beugte, winkte und ihr etwas zurief, das sie nicht genau verstand. Es klang so ähnlich wie:
    »Glücklich?«
    Sie zuckte die Achseln. Worüber sollte sie denn glücklich sein? Es gab Augenblicke wie eben den jetzigen, an denen ihr vor der heimeligen Atmosphäre in dem Backsteinhaus graute, Momente, in denen sie sich fragte, ob sie es noch lange darin aushalten konnte. Freilich war ihr auch die Vorstellung unerträglich, nach Moulins in das Haus ihres Vaters zurückzukehren.
    Wie sonderbar! Manche Menschen wurden von dramatischen Ereignissen überhaupt nicht berührt. Sie sah ihren Vater vor sich, der wie ein Kind geblieben war. Vermochte er eigentlich tiefere Gefühle zu empfinden?
    Sie ließ ihre Gedanken schweifen. Sie dachte an ihre früh verstorbene Mutter- sie selbst war damals erst neun Jahre alt gewesen –, an ihren Vater, der ihr in seinem letzten Brief die Kreuzfahrt nach Spitzbergen ankündigte.
     
    Papiere abgeschickt. Dein Vater.
     
    Kein Wort hatte er gesagt, als sie ihn von ihrer Ab reise in Kenntnis setzte! Sie war gerührt. Im Geiste tauchte sein Gesicht mit der geschwollenen Backe vor ihr auf, glaubte sie seine Stimme zu hören, die anscheinend nur belanglose Dinge von sich gab …
    »Armer Papa!« murmelte sie, fuhr noch langsamer.
    Doch unbewußt hielt sie schon nach dem abgestorbenen Baum Ausschau, der die Abzweigung zum Haus anzeigte. Dann erschienen die drei Hütten und die Bananenstauden in ihrem Blickfeld und schließlich der Kamin, der das Laubwerk überragte.
    Wie immer fuhr sie das Auto in die Garage, die sie abschloß, spähte in der Dämmerung nach Camille aus, erblickte ihn in weiter Ferne auf dem Hügel bei den Arbeitern und den Elefanten.
    Sie war völlig erschöpft. Sie hatte zuviel gearbeitet, um nicht düsteren Gedanken nachzuhängen, und jetzt fühlte
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