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Weißer Mann mit Brille

Weißer Mann mit Brille

Titel: Weißer Mann mit Brille
Autoren: Georges Simenon
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regnete nicht. Der Erdboden war mit Wasser durchtränkt, und sie befürchteten Schwierigkeiten beim Start.
    Der Mechaniker war bis zur letzten Minute an der Arbeit. Philps hatte nichts an seiner Kleidung verändert, und sein ganzer Proviant bestand aus einer Thermosflasche mit starkem Tee, Sandwiches, Schokolade und Bananen.
    Wie immer küßte er Emilienne die Hand, doch im letzten Augenblick vermochte er sich über seine Hemmungen hinwegzusetzen, und er zog sie ein wenig unbeholfen an sich, küßte sie auf beide Wangen.
    »Viel Glück …«, murmelte er so leise, daß sie jede Silbe erraten mußte.
    Crosby umarmte ihn auf die gleiche Art, wie es die Generäle tun, wenn sie einem Offizier einen Orden verleihen.
    »Hip! Hip! Hip! …«
    Das sonderbarste aber war, daß Camille, als die Maschine einen Kreis um das Haus beschrieb, bevor sie Kurs nach Südwesten nahm, sich als einziger heimlich Tränen aus den Augen wischte.
    »Ich nehme den Mechaniker mit …«, sagte Major Crosby. »Kommen Sie zu mir, wenn Sie etwas brauchen. Ich bin noch drei Wochen hier …«
    Mit einem Mal war nur noch Leere um sie.

9
    Sie erfand einen neuen Trick, um den Zufall zu überlisten: Statt jeden Tag nach Niangara zu fahren, wie Philps es getan hatte, gewöhnte sie sich an, sich nur jeden zweiten Tag dorthin zu begeben. Warum hatte sie sich nur in den Kopf gesetzt, daß die Nachricht sie auf der Straße erreichen, der Läufer ihr das Telegramm unterwegs übergeben würde?
    Denn sie erwartete ein Telegramm, nichts anderes. Warum das so sein mußte, hätte sie nicht zu sagen gewußt. Doch ihr Vater beging die Ungeschicklichkeit, ihr eines zu schicken, sobald er die Angelegenheit mit Brüssel geregelt hatte, so daß sie tatsächlich einem Läufer auf der Straße begegnete, dem sie zehn Francs Trinkgeld gab, da sie keine Münzen bei sich hatte.
     
    Papiere heute abgesandt. – Dein Vater.
     
    Als sie zwei Tage darauf in Niangara eintraf, war das Amtsgebäude geschlossen. Da ihr nichts von einem gesetzlichen Feiertag bekannt war, fühlte sie sich einen Augenblick lang wie vor den Kopf geschlagen, was jetzt häufiger vorkam als früher.
    Nicht daß sie ihr Vertrauen verloren hätte, nein, das nicht, aber es war kein tatkräftiges Vertrauen mehr, das das Geschick bei den Hörnern packte. Sie war erschöpft. Sie tastete sich auf Schleichwegen vorwärts.
    »An einem Mittwoch ist der Propeller eingetroffen … Also wird nächsten Mittwoch …«
    Wenn sie auf ihr bisheriges Leben zurückblickte, stellte sich heraus, daß Freitag doch eher ihr Glückstag war. Sie pflaumte sich selber an, aber ohne rechte Überzeugung.
    Als sie sich zur Villa des Administrators wandte, sah sie, daß die belgische Flagge auf Halbmast gesetzt war. Als sie die Augen zum Dach des Amtsgebäudes hob, bot sich ihr das gleiche Bild.
    Angst packte sie. Vergeblich sagte sie sich, daß in Brüssel eine wichtige politische Persönlichkeit gestorben war. Sie ließ ihren Wagen am Straßenrand zurück, eilte zum Bungalow der Costemans. Keine Menschenseele weit und breit.
    Sie klopfte an. Endlich zeigte sich ein ganz junger Boy, aber er verstand kein Wort Französisch, und sie konnte noch kein Bengala.
    In ihrer Erregung versuchte sie sich durch Zeichen und wiederholte Ausrufe verständlich zu machen. Der Junge verschwand, kehrte zurück und schüttelte verneinend den Kopf.
    »Gehen Sie zu den Bodets …«, rief schließlich eine matte Stimme aus dem Schlafzimmer. Sie erkannte den Tonfall von Frau Costemans.
    Säuglingsgeschrei verlieh ihren Worten Nachdruck.
     
    Noch vor vierzehn Tagen wäre Emilienne nicht so schnell außer Fassung geraten. Aber an diesem Morgen herrschte eine unheimliche, bedrückende Atmosphäre. Es war ein sonnenloser, ein »bleierner« Tag, wie Camille sich ausdrückte. Der Himmel hatte wirklich die Farbe von flüssigem Blei. Die Fliegen waren aggressiver als sonst.
    Auch auf der Veranda der Bodets war kein Mensch. Sie erklomm die Stufen, ohne zu rufen, blickte durch das Fenster und sah Costemans im Gespräch mit dem alten weißen Missionar, den sie nur einmal gesehen hatte, als er mit dem Motorrad an ihr vorbeifuhr.
    Costemans erhob sich, kam ihr entgegen. Er war ruhig und bleich, die Schatten unter seinen Augen waren noch tiefer als sonst.
    »Kommen Sie herein«, sagte er. »Ich bin froh, daß Sie da sind, so können Sie bezeugen …«
    Der Pater, der einen rötlichen Bart hatte, begnügte sich mit einer Verbeugung.
    »Hat man Sie davon in Kenntnis
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