Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weißer Mann mit Brille

Weißer Mann mit Brille

Titel: Weißer Mann mit Brille
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
einfach großartig …«
    »Ich war mir nicht sicher, ob ich nicht doch ein drittes Fenster durchschlagen lassen sollte …«, sagte sie und versuchte dabei zu lächeln. »Ich dachte aber, daß gegen drei Uhr die Sonne direkt daraufprallen würde …«
    »Das stimmt. Meist denkt man an diese Dinge erst, wenn es zu spät ist, und hier sind gerade sie die Hauptsache …«
    Wovon sprachen sie eigentlich? … Und hier sind gerade sie die Hauptsache … » Beinahe hätte ich eine Brücke über den Fluß bauen lassen«, fuhr Emilienne eifrig fort. »Dann müßte man nicht mehr am Wasserfall vorbei, und die Schwarzen wären jedesmal eine Viertelstunde eher auf dem Hügel …«
    Jetzt war noch der Abend zu überstehen! In etwa einer Stunde könnte man sich schlafen legen. Und morgen …
    Am nächsten Tag würde alles ganz einfach sein! Man mußte sich nur daran gewöhnen …
    Nicht von ungefähr lenkte Camille das Gespräch auf etwas anderes und löste damit die Spannung.
    »Sollen wir nicht die Lohntüten für morgen fertigmachen? Übrigens, ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß wir jetzt vierzig statt dreißig Centimes pro Tag zahlen. Das wurde in Niangara so angeordnet.«
    »Bring mir die Akte!«
    Er setzte seine Brille wieder auf, lächelte Emilienne zu, um sich bei ihr zu entschuldigen.
    »Bist du müde?«
    »Ein wenig …«
    »Geh schon schlafen … Du behältst natürlich dein Zimmer … Ich ziehe in das von Camille …«
    Seine Selbstsicherheit war nur gespielt. Er wagte es kaum, sie an der Tür auf die Wange zu küssen.
    »Ruh dich aus …«
    Aber er wußte sehr wohl, daß sie nicht schlafen würde. Er wußte sehr wohl, daß sie in ihrem Zimmer die feinen Briefbogen auf dem Sekretär vorfinden würde, die er scheinbar achtlos auf der Schreibunterlage hatte liegenlassen.
    Sie begriff sofort, daß er es absichtlich getan hatte, daß er jetzt hinter der Tür darauf harrte, wie sie reagieren würde, daß ihm das jetzt viel wichtiger war als die Lohntüten seiner Arbeiter.
    Äußerlich unterschieden sich diese Aufzeichnungen nicht von denen, die er regelmäßig an seine Mutter schickte und die auch Emilienne zu lesen pflegte. Das einzig Ungewöhnliche war der große Leerraum nach den Worten:
     
    25. Mai – Jetzt ist alles eins! …
     
    Die verstrichene Zeit hatte er durch eine Zickzacklinie wiedergegeben, bevor er weiterschrieb:
     
    2. Juni – Heute morgen habe ich ihre Kinder gesehen, die eine Nurse in einer Grünanlage spazierenführte. Eine ganz ähnliche habe ich irgendwo in Paris, in der Nähe der Avenue Victor-Hugo gesehen. Der Junge ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich vermag mir kaum vorzustellen, daß er einmal zu einem Mann heranwächst.
    Ich kann mich noch nicht damit abfinden … Vor genau sechs Tagen waren wir in Khartum, wo sich alles mit einem Male entschieden hat …
     
    … Lady Makinson, die so tat, als würde sie Ferdinand nicht kennen, und die auf Grund ihres Ranges von den Engländern an Bord mit größter Zuvorkommenheit behandelt wurde … Bei den Mahlzeiten nahm sie den Ehrenplatz ein … Sie allein hatte das Recht, zu spät zum Abflug zu erscheinen.
    Nur Ferdinand, der einsam in seinem Winkel saß, wußte, warum sie so viel redete, warum ihr Lachen so schrill klang, warum sie sich eine Zigarette nach der anderen ansteckte, sobald sie das Flugzeug verlassen hatten.
     
    Wenn ich in diesem Augenblick gewollt hätte …
     
    Aber in jenem Augenblick hatte er eben nicht gewußt, was er eigentlich wollte. Er hatte sich in sein Schneckenhaus verkrochen, verspürte nur das eine Bedürfnis: etwas zu tun, was immer es auch sei, vor allem aber sein bisheriges Leben aufzugeben.
     
    Wenn sie im Flugzeug, wo sie am anderen Ende saß, verstohlen zu mir herüberspähte, ob sie da wohl ahnte, daß ich in manchen Momenten fest dazu entschlossen war, sie zu töten und dann mich selber? …
     
    Über die Szene in Khartum schrieb er fast nichts. Nach dem Abendessen versammelten sich die Passagiere an Bridge-Tischen. Lady Makinson war sehr nervös und hatte sich auf die Terrasse begeben, von der man Tische und Sessel entfernt hatte, weil ein Sandsturm angekündigt war.
     
    Nunmehr verstehe ich, daß ein Mann zu allem fähig
    ist. »Wahnsinn« ist ein viel zu schwacher Ausdruck. Ich war entschlossen … Wozu, weiß ich nicht … Vielleicht nur, mich ihr zu Füßen zu werfen und zu weinen? … Hat sie das gespürt? … Flößte ich ihr gar Mitleid ein? … Oder aber? … Als ich zu ihr trat,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher