Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt
Autoren: David Albahari
Vom Netzwerk:
trotzend. Doch es gibt kein Geheimnis, das nicht zu klären ist, meinte der Kommandant und weigerte sich, diesem Konvoi an Traurigkeit aus dem Weg zu gehen. Er stand stur da mit einem STOP -Schild in der erhobenen Hand im Glauben, dass er sich an der richtigen Stelle befand, aber als er den verrückt gewordenen Fahrzeugen der Traurigkeit im letzten Augenblick doch noch auswich, wurde ihm klar, dass die Zeiten sich nicht geändert hatten. Alle dachten weiterhin in eingefahrenen Kategorien, die die Welt ganz eindeutig (so glaubten sie) in Plus und Minus teilten, in Hell und Dunkel, in Männlich und Weiblich, und keinen Platz für jene ließen, die absichtlich oder unbeabsichtigt aus diesem Schwarzweißbild herausgesprungen waren und versucht hatten, kleine Nischen, Zentren künftiger Veränderungen zu öffnen, die allmählich wachsen würden, bis sie ihren Platz in der neuen Welt gefunden hätten. Die neue Welt, dachte der Kommandant, und prompt fiel ihm ein, mit welcher Freude und Bereitschaft seine Soldaten sich an das Aufräumen des Kontrollpunkts gemacht hatten, wie sie alles immer und immer wieder geschrubbt hatten, bis jeder Gegenstand – der Schmutz war tief in alle Poren eingedrungen – wie neu erstrahlte. Später saßen sie im Dunkeln und aßen Obst, am selben Tag in einem Obstgarten gepflückt, auf den sie zufällig auf dem Weg zum Kontrollpunkt gestoßen waren. Das Tor zum Obstgarten hatte verlockend offen gestanden, und sie hatten alle zu pflücken begonnen. Da gab es Äpfel, Aprikosen, Birnen, Pfirsiche und Pflaumen. Während die Soldaten anfangs still, dann immer lauter das Obst ernteten, ging der Kommandant immer tiefer in den Obstgarten, neugierig zu erfahren, warum kein Eigentümer zu sehen war. Der Garten war sehr groß, er schien kein Ende zu haben, und der Kommandant wollte schon aufgeben, aber dann sah er ein Haus, in dem wohl der Hüter oder der Eigentümer wohnte. Wie das Eingangstor stand auch die Haustür offen, und der Kommandant spürte, wie sein Herz plötzlich schneller schlug, seine Finger sich um den Pistolengriff verkrampften, sein Mund unerträglich trocken wurde. Er wusste, was das bedeutete: So reagierte sein Körper auf Gefahr, aber was für eine Gefahr konnte hier zwischen den Obstbäumen auf ihn lauern? Er griff dennoch zur Pistole, duckte sich und ließ die Fenster nicht mehr aus den Augen. Aus der Ferne hörte er die Stimmen der Soldaten, nicht lauter als das Summen von Bienen. Hätte er doch wenigstens noch einen Soldaten mitgenommen, dachte der Kommandant, das hätte ihm ein Mindestmaß an Sicherheit garantiert, aber nun war es zu spät. Er bestimmte den Winkel, unter dem er sich dem Haus nähern konnte, ohne aus einem der Fenster gesehen zu werden, und gelangte leise, langsam, Schritt für Schritt zur Haustür. Neben dieser lag in einer Blutlache ein Mann mittleren Alters. Sein Mund stand leicht offen, und es sah aus, als wäre er von angestrengtem Singen gestorben, in Wirklichkeit aber hatte ihm jemand die Kehle durchgeschnitten, von einem Ohr zum anderen. Der Kommandant sprang vorsichtig über den Toten und vernahm dann aus dem unteren Teil des Hauses, dem Erdgeschoss oder dem Keller, eine unverständliche Frauenstimme. Er sah eine Betontreppe, die nach unten führte, und stieg langsam hinab. Die Stimmen wurden deutlicher, schon konnte man zwei Männer- und eine Frauenstimme unterscheiden. Die Männer unterhielten sich, lachten sogar, während die Frauenstimme immerzu winselte. Im Raum befand sich, wie der Kommandant etwas später erkannte, noch eine Frau, sie öffnete vergebens den Mund, denn kein Ton entfloh ihm. Diese Frau hielt einer der Männer fest und gab ihr jedes Mal eine Ohrfeige, wenn sie die Augen schloss oder den Kopf wegdrehen wollte. Sieh hin, sagte der Mann dann, sieh hin und lerne daraus! Was sie sehen sollte, war ein etwa zehnjähriges Mädchen, offensichtlich ihre Tochter, das der andere Mann, ganz außer Atem und verschwitzt, vergewaltigte. Beide waren Soldaten, aber der Kommandant konnte ihre Uniformen nicht identifizieren, vor allem, weil ihm Schweiß in die Augen rann. Und es hätte auch nichts genützt, sie zu identifizieren, denn seine Reaktion wäre dieselbe gewesen. Er betrat leise den Raum, hielt die Pistole an den Kopf des Vergewaltigers, gab dem anderen Soldaten ein Zeichen, still zu sein, zog wortlos am Abzugshahn und legte, während der erste Soldat hinter ihm langsam zu Boden sank, den Lauf an die Stirn des zweiten Soldaten, befahl der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher