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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten
Autoren: Lisa Unger
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PROLOG
    B irdie Burke stand auf dem Felsen und beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen den Himmel in ein schmutziges Rosa verwandelten. Als sie den glitschigen Kiesstrand betrat, schlugen die kleinen, kalten Wellen gegen ihre Beine. Außer dem Rascheln der Blätter, durch die eine sanfte Brise fuhr, waren nur die fernen Schreie eines Seetauchers zu hören. Birdie ließ ihren Morgenmantel fallen und bekam in der kühlen Luft sofort eine Gänsehaut. Sie war unbeobachtet; die Nachbarinseln konnte man nur von der nördlichen und der südlichen Inselspitze aus sehen. Birdies Mann lag noch im Haupthaus im Bett und schlief.
    Und selbst wenn jemand sie gesehen hätte – wer interessierte sich schon für eine Fünfundsiebzigjährige im Badeanzug? Die meisten Beobachter hätten peinlich berührt den Blick abgewandt, auch wenn Birdie schlank und in Form war. Angezogen wirkte sie sehr elegant. Eigentlich hielt sie sich immer noch für recht attraktiv. Dennoch hatte Birdie manchmal das Gefühl, nicht mehr wahrgenommen zu werden – nicht so wie früher.
    Die Zeit hatte ihrer Figur die Kurven, der Haut die seidige Glätte und den Haaren den Glanz genommen. Obwohl sie sich kaum anders fühlte als mit zwanzig, hatte sie mit dem Mädchen von damals nur noch wenig gemein. So ging es allen Menschen. In ihrem Alter war es normal, sich im Spiegel nicht wiederzuerkennen. Die meisten Freundinnen kämpften mit allen verfügbaren Mitteln gegen das Altern an und beschäftigten ganze Teams von Fitnesstrainern, Schönheitschirurgen, Kosmetikerinnen und Friseuren, die die Zeit anhalten sollten. Wie albern, dachte Birdie. Diese eine Schlacht ließ sich nicht gewinnen. Nicht, dass sie ihr Äußeres vernachlässigt hätte. Und sie wusste, wie sich Niederlagen anfühlen.
    Zentimeter für Zentimeter schob sie sich ins eiskalte Wasser und tauchte entschlossen bis zu den Schultern ein. Obwohl sie an den Kälteschock gewöhnt war, schienen sich all ihre Muskeln aus Protest zusammenzukrampfen; ihr Herz raste, und ihre Gelenke schmerzten. Sie setzte sich in Bewegung, schwamm langsam und regelmäßig Zug um Zug und strampelte mit den immer noch kräftigen Beinen. Für gewöhnlich wurde ihr schnell warm, und nach einer Weile fühlte sich das Wasser frisch und spritzig an, belebend.
    Aber heute war es anders. Vielleicht war das Wasser ein Grad zu kalt? Oder vielleicht wurde Birdie alt? Sie fand keinen Rhythmus. Sie war noch nicht weit geschwommen und dachte schon ans Umkehren.
    Früher hatte sie die Insel mühelos umrundet, an manchen Tagen sogar zweimal. Sie fing stets am Weststrand an, der einzigen Stelle, an der man bequem ins Wasser steigen konnte. Sie schwamm weit hinaus, im sicheren Abstand zu den scharfkantigen grauen Felsen, die die Insel säumten. Normalerweise genoss sie es, wenn das kühle Wasser ihre Haut streichelte, ihr Herz zu klopfen begann und sie mit schlanken, starken Armen und Beinen am Bootsanleger vorbeizog, immer weiter, zur Ostseite der Insel und von dort noch ein Stückchen weiter bis zum Anfangspunkt. Wenn sie gut in Form war, brauchte sie für eine Inselumrundung etwa dreißig Minuten.
    Sie hatte den Eindruck, dass das Wasser damals wärmer gewesen war. Damals hatte sie den frühen Morgen für sich genutzt, wenn die Kinder noch schliefen und nicht nach ihr verlangten. Manchmal hatte sie sich gewünscht, es könnte immer so friedlich sein. Und nun, wo niemand mehr Ansprüche an sie stellte, erwies die lang ersehnte Freiheit sich wider Erwarten als weniger verheißungsvoll. Sie fragte sich, warum. Sobald sich der Wunsch erfüllte, war er nur noch ein Schatten des gehegten Traumes.
    Sie war bis zum Anleger gekommen und hatte nicht einmal ein Viertel der Strecke hinter sich gebracht, als sie zerknirscht aufgeben musste. Sie würde es nicht schaffen. Zögerlich machte sie kehrt und schwamm ans Ufer zurück, wo ihr Bademantel zu einem rosa Häuflein zusammengesunken lag. Mit steifen Bewegungen kletterte sie aus dem Wasser. Sie war enttäuscht, wenn nicht gar wütend, die Strecke nicht geschafft zu haben. Sie wollte nicht an ihr Alter erinnert werden. Früher war sie unbesiegbar gewesen.
    Aber letztendlich war es vielleicht besser so; sie hatte heute viel zu tun. Am Sonntag erwarteten sie Besuch. So viel musste erledigt werden, bevor sie Gäste empfangen konnte, und ihr Mann Joe war ihr dabei keine große Hilfe. Er hielt sich mit Details auf, mit der Auswahl von Wein, Musik und Gesellschaftsspielen. Alle schweren Arbeiten – das
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