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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten
Autoren: Lisa Unger
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Ketten. Und wenn man den Leuten einen falschen Betrag herausgibt, halten sie einen für nicht vertrauenswürdig oder für inkompetent. Verstehst du das, Emily?« Es war eine rhetorische Frage. Carol redete einfach weiter.
    »Und dass mal etwas runterfällt … tja, das kommt vor. Aber normalerweise passiert das nur, wenn man nicht bei der Sache ist. Dir sind heute Vormittag so viele Fehler unterlaufen, weil du völlig neben dir stehst. Ich möchte, dass du dir, wenn du die Bestellung an den Vierertisch gebracht hast, ein paar Minuten Pause im Hinterhof gönnst. Ich übernehme deine Tische. Und wenn du dann zurückkommst, geht der Tag noch einmal von vorn los, okay?«
    Emily nickte eifrig und lief los, um der Familie am Fenstertisch das Essen zu bringen. Pancakes für die Tochter, French Toast für den Sohn, Eiweißomelett mit Brokkoli für die Mutter und ein Chili-Käse-Omelett mit Bratkartoffeln und einer doppelten Portion Speck für den Vater (Junge, was hat seine Frau ihm bei der Bestellung für Blicke zugeworfen!). Der Mann könnte vielleicht ein paar Kilo abspecken, aber er wirkte zufrieden mit sich und sah nicht krank aus. Er war einfach ein ganzer Kerl, der gern deftig aß. Wahrscheinlich war sein Cholesterinspiegel zu hoch, und deswegen schaute seine Frau ihn so böse an, als Emily den Teller vor ihm abstellte.
    »Wow«, sagte die Frau, »sieht lecker aus.« Dabei meinte sie: Liebling, willst du das wirklich alles essen? Wenigstens bildete Emily sich das ein. Sie besaß die Gabe, Gesichter und Körperhaltungen lesen zu können. Oft hatte sie das Gefühl, die Gedanken der Leute zu kennen, selbst wenn sie etwas ganz anderes sagten. So war es immer schon gewesen.
    Nachdem sie der Familie noch den Ketchup gebracht hatte, befolgte sie Carols Anweisung und ging in den Hinterhof. Sie setzte sich auf die Bank, auf der das Personal seine Zigarettenpausen verbrachte, und schaute nach oben. Der Tag war schwül, weiße Schleierwolken bedeckten den Himmel. Eine leichte Brise fuhr in das Laub der großen Eichen, die neben dem Parkplatz aufragten, und die Blätter rauschten. Emily holte tief Luft und versuchte, ihre Sorgen abzuschütteln, so, wie Carol es wollte.
    Wieso gehst du in diesen blöden Laden und lässt dich von der dummen Kuh herumscheuchen?
    Das hatte Dean am Morgen zu ihr gesagt. Er wollte nicht, dass sie zur Arbeit ging. Er wollte, dass sie bei ihm blieb. Er konnte Carol nicht leiden. Ehrlich gesagt schien Dean niemanden zu mögen, den Emily mochte. Manchmal fragte Emily sich, was das über seinen Charakter verriet.
    »An einem Vormittag mit mir verdienst du mehr als in einer ganzen Woche im Fat Hen.«
    »Blue Hen.«
    »Ist doch egal«, hatte er gesagt und sich eine Zigarette angezündet, obwohl er wusste, dass ihr morgens von dem Qualm übel wurde. »Du hast es nicht nötig, dich rumkommandieren zu lassen.«
    Er wollte nicht, dass sie als Kellnerin arbeitete. Seine Mutter war Kellnerin, und Dean hätte Emily am liebsten alles verboten, was ihn an seine Mutter erinnerte.
    »Das ist ein Unterschichtenjob«, sagte er.
    Emily assoziierte ehrliche Arbeit keineswegs mit »Unterschicht«, was immer das auch bedeuten sollte, wenn es aus Deans Mund kam. Carol behandelte sie gut. Die Gäste benahmen sich meistens sehr höflich, weil das Blue Hen nicht das billigste Restaurant der Stadt war. Emily bekam viel Trinkgeld. Und für gewöhnlich stellte sie sich beim Kellnern nicht ungeschickt an. Sie war kommunikativ und freundlich, plauderte gern mit den Stammgästen über dieses und jenes. Carol sorgte dafür, dass Emily vor oder nach der Schicht eine warme Mahlzeit bekam, und sie erlaubte ihren Angestellten, sich Kaffee oder Kakao zu nehmen. Das Blue Hen war das netteste Restaurant, in dem Emily je gearbeitet hatte.
    Als sie am Morgen das Haus verlassen hatte, war Dean wütend geworden. Deswegen war sie bei der Arbeit so fahrig gewesen. Na ja, unter anderem. Sie konnte es nicht ertragen, wenn Dean wütend auf sie war, aber wenn sie nicht arbeiten ging und Geld nach Hause brachte, kamen sie nicht durch die Woche. Dann musste sie wieder einmal ihre Mutter anpumpen, und das war im Moment unmöglich. Eine weitere Baustelle in Emilys Leben.
    Es stimmte, manchmal verdiente Dean tatsächlich viel Geld. Aber nicht regelmäßig. Und was er bekam, gab er ebenso schnell wieder aus. Außerdem verschwand er manchmal tagelang. Einmal sogar für eine ganze Woche. Sie hatte nicht mehr mit seiner Rückkehr gerechnet. Als er schließlich
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