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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten
Autoren: Lisa Unger
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Höhe. Birdie starrte angestrengt hinüber und mühte sich, Formen auszumachen, einen Schatten vielleicht oder einen Ast. Aber nein, da war nichts zu sehen als ihre alten Freunde, die Kiefern, Birken und Ahornbäume mit ihrem ewigen, immergleichen Flüstern.
    Schließlich lief Birdie zum Haupthaus zurück, um Frühstück zu machen. Ihre Stimmung hatte sich verfinstert. Sie fühlte sich scheinbar grundlos beunruhigt; als hätte sie eine schlechte Nachricht bekommen oder sich an etwas Unangenehmes erinnert.

EINS
    D as Blue Hen brummte, und seit Beginn ihrer Schicht waren Emily schon drei dicke Patzer unterlaufen. Einem Gast hatte sie zu viel Wechselgeld herausgegeben. Einem zweiten hatte sie das falsche Gericht serviert. Und nun, als ein wildes ADHS -Kind, ohne zur Seite zu blicken, aus den Toiletten an ihr vorbeigestürmt war und ihr im engen Durchgang zur Küche den Weg abgeschnitten hatte, war ihr ein Tablett mit Wassergläsern aus der Hand gerutscht. Sie war in der Bewegung erstarrt, um einen Zusammenprall zu vermeiden – doch das Tablett mit den Gläsern hatte sich leider selbständig gemacht.
    Der Junge schoss durch den schmalen Flur, während alles andere wie in Zeitlupe ablief. Vier große Gläser segelten durch die Luft und zogen einen Schweif aus Wasser und Eiswürfeln hinter sich her. Durch Emilys Kopf dröhnte ein verzweifeltes »Nein!«, und dann hörte sie es krachen. Wie betäubt starrte sie auf das funkelnde, nasse Chaos zu ihren Füßen. Oh Gott. Oh nein. Warum fingen manche Tage schon schlimm an, um dann völlig aus dem Ruder zu laufen?
    Angelo kam sofort aus der Küche, um ihr zu helfen. Er hielt den Wischmopp in der einen und den Eimer in der anderen Hand wie ein Rettungskommando. Im selben Moment kam Carol um die Ecke, die Inhaberin des Blue Hen.
    »Was ist passiert?«, fragte sie.
    »Ich habe etwas fallen lassen«, antwortete Emily, obwohl es offensichtlich war. Sie würde gar nicht erst versuchen, die Sache mit dem Kind zu erklären. Und dass die Toilettentür nach außen zum Flur hin aufging. Die meisten Leute beachteten das Schild nicht: Bitte die Tür langsam öffnen. Carol betrachtete das Schlamassel und legte die Hand an die Stirn. Die Nägel an ihren dicken Fingern waren perfekt manikürt. Emily konnte nicht anders, als auf die Ringe zu starren – einen riesigen Verlobungsring mit einem Diamanten und einen mit einem Saphir. Der »Familienring«, wie Carol ihn nannte. Die Steine funkelten wie Sterne.
    »Angelo soll das aufwischen. Die Bestellung für den Vierertisch ist fertig. Kümmere dich um das Essen, ich bringe neues Eiswasser«, sagte Carol. Sie klang müde, aber nicht gereizt. So war Carol nicht. »Versuch, dich zusammenzureißen, Emily. Ich weiß ja nicht, was dich heute so beschäftigt, aber die Arbeit ist es bestimmt nicht.«
    Emily nickte.
    »Es tut mir leid.«
    Carol betrachtete Emily über den Rand ihrer Lesebrille hinweg. Sie hatte ein hübsches, volles Gesicht mit rosigen Wangen, blauen Augen und dichten schwarzen Wimpern. Sie war klein und drall und wirkte sehr mütterlich. Wenn sie mit stolzgeschwellter Brust durchs Restaurant stolzierte und ihre Gäste begluckte, sah Carol wie eine Henne aus, dachte Emily manchmal. Am liebsten hätte Emily ihren Kopf in Carols Schoß gelegt und sich ausgeheult.
    »Was ist denn, Liebes?«, fragte Carol. »Möchtest du reden?«
    »Nein«, winkte Emily lächelnd ab, »mir geht es gut.«
    Angelo kniete schon am Boden, um mit schwieligen Händen die Scherben aufzulesen.
    »Tut mir leid, Angelo«, sagte Emily.
    Mit seinen dunklen liebeskranken Welpenaugen schaute er ergeben zu ihr auf.
    »Das macht doch nichts«, sagte er.
    Emily wusste, dass Angelo heimlich in sie verliebt war. Er lächelte breit, so als gefalle es ihm, vor ihr zu knien. Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss, dann riss sie sich los und eilte Carol nach, die immer noch redete. Carol hatte eine schnelle, leise, aber sehr eindringliche Art zu sprechen, und es kümmerte sie nicht, ob man ihr tatsächlich zuhörte, solange man aufmerksam schien .
    »Wenn du den Leuten eine falsche Bestellung bringst, besonders einem Gast wie Barney, der bei uns täglich zur selben Zeit das Gleiche isst, dann vermitteln wir ihnen den Eindruck, sie nicht zu kennen, uns nicht für sie zu interessieren. Bei TGIF oder Chili’s mag das egal sein, aber hier, in meinem Restaurant, nicht – nur durch die enge Kundenbindung unterscheiden sich unabhängige Familienrestaurants von den großen
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