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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten
Autoren: Lisa Unger
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Einkaufen, Kochen und Putzen – blieben an Birdie hängen. Übermorgen Abend versammelten ihre Kinder und Enkelkinder sich am langen Esstisch, und dann war es mit der segensreichen Stille auf der Insel vorbei. Birdie würde alle Hände voll zu tun haben.
    Du bist selbst schuld , schimpfte ihr Mann regelmäßig . Warum kannst du dich nicht einfach zurücklehnen und es genießen? Niemand hat etwas gegen Hamburger vom Grill, Kartoffeln in Alufolie und grünen Salat einzuwenden. Niemand, außer Birdie.
    Sie war so in Gedanken, dass sie ihn erst bemerkte, als sie längst in Morgenmantel und Badeschuhe geschlüpft war und sich zum Haus umgedreht hatte. Sie brauchte einen Moment, um erschreckt zu begreifen, dass dort zwischen den Bäumen jemand stand.
    Ohne Brille konnte Birdie ihn nicht erkennen. Wer in aller Welt konnte das sein? Ihr Mann auf keinen Fall. Die Gestalt war groß und schlank, anders als der untersetzte Joe. Ein Nachbar vielleicht? Nein, das war unmöglich, sie hätte das Boot gehört.
    »Wer ist da?«, rief sie.
    Die Gestalt blieb reglos stehen, sie schien entrückt. Birdie gelang es nicht, ihren Blick scharf zu stellen. Obwohl sie ein wachsendes Unbehagen verspürte, ging sie auf den Unbekannten zu. Nie in ihrem Leben war sie einer Herausforderung ausgewichen. Den Stier bei den Hörnern packen, das war ihre Devise. Sie hielt sich immer noch für rüstig und respekteinflößend. Fünfundsiebzig war heutzutage kein Alter mehr.
    »Bitte weisen Sie sich aus«, rief sie. Der Klang ihrer Stimme gefiel ihr selbst nicht. »Musst du immer so herrisch sein?«, wies ihr Mann sie oft zurecht. »Meine Güte, du führst dich auf wie die Königin von England.«
    »Sie befinden sich hier auf einem Privatgrundstück.«
    Aber der Mann reagierte nicht. Was genau sah sie? Stand da überhaupt jemand? Vielleicht spielte ihr die Morgensonne einen Streich.
    Birdie beschleunigte ihre Schritte, aber während sie näher kam, verschwand er zwischen den Bäumen. Sie hatte gar nicht gewusst, dass ihre Augen inzwischen so schwach waren. Als sie die Stelle erreicht hatte, war der Mann verschwunden. Dabei hatte Birdie ihn definitiv gesehen. Sie war weder verrückt noch senil. Oder hatte sie sich doch getäuscht?
    Sie überquerte den felsigen Strand auf der Westseite der Insel und lief zum Bootsanleger. Weil es in den letzten Wochen kaum geregnet hatte, waren die Steine oberhalb der Wasserlinie einigermaßen trocken, doch das konnte täuschen. Nichtsdestotrotz wusste Birdie ihre Schritte wohl zu platzieren; sie kannte den Weg seit ihrer Kindheit. Ihre Füße fanden sich auf den Felsen zurecht, so wie damals, als Kind, Teenager und junge Frau. Sie ging schnell, kannte jeden lockeren Stein, jede scharfe Kante und jede sichere ebene Platte. Wenn es regnete und Windböen das Wasser aufpeitschten, war dieser Pfad unpassierbar. Dann wurden die scharfkantigen Steine rutschig, und Wellen warfen sich an die steilen Klippen. Dann musste man wohl oder übel ins Wasser steigen und schwimmen.
    Als sie die Landzunge hinter sich gelassen hatte, sah sie den hellgrauen Anleger aus dem tiefblauen Wasser ragen. Über ihrem Kopf zog ein schreiender Schwarm Kanadagänse gen Süden. Es wurde jeden Tag ein bisschen kälter.
    Die alte Jolle dümpelte am Steg. Auch das kleine Motorboot war sicher am Poller vertäut, die Kajüte zum Schutz vor dem Regen mit einer Plane abgedeckt. Kein Boot deutete auf einen Besucher auf der Insel hin. Und man konnte nur an dieser Stelle anlanden, ohne sein Boot zu beschädigen.
    Im Süden lag Cross Island. Erst vor zwei Jahren hatte der neue Besitzer darauf ein Haus gebaut. Die Insel war unbewohnt gewesen, solange Birdie denken konnte. Als Kind war sie zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Schwester in einem kleinen Ruderboot übergesetzt, um die Insel zu erkunden. Ihre besorgte, strenge Mutter hatte sie stets zurückgepfiffen.
    »Ihr dürft dort nicht hin«, hatte sie gerufen, »die Insel gehört uns nicht.«
    Unter Murren und Schimpfen hatten sie umgedreht, aber keiner wagte es, sich mit Mutter anzulegen, wenn sie dieses Gesicht zog. Lana wurde nur selten böse und hob die Stimme fast nie, aber im Verteilen strenger Blicke war sie eine Meisterin. Dann schwieg man besser und gehorchte.
    Birdie sah Cross Island und das neue Haus. Das Dach mit den braunen Schindeln ragte zwischen den Bäumen auf, die Fenster schimmerten in der Morgensonne rosa. Sie mochte den Anblick nicht. Sie fühlte sich bedrängt. Außerdem verband sie mit der
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