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Bitteres Blut

Bitteres Blut

Titel: Bitteres Blut
Autoren: Willi Voss
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    »Ich versteh das nicht«, murmelte Hollenberg fassungslos. »Aber ich schwör, dass der da gehangen hat! Wirklich, Herr Kommissar!«
    Verlegen und trotzig zugleich knetete der Bauer sein soeben benutztes Taschentuch, als könnte er in ihm den Beweis seiner Behauptung ertasten. Seine Blicke wanderten von dem verwitterten Gedenkstein über die hölzerne Flussbrücke und hinüber zu den von Zäunen in unregelmäßige Quadrate geteilten sattgrünen Weiden, an deren Horizont träge drehende Windräder aus dem morgendlichen Dunst ragten. Aber auch da war keine Leiche.
    »War es denn noch dunkel, als Sie hier eintrafen?«
    »Dämmerung, würde ich sagen, noch keine Sonne …« Geradezu weinerlich die Stimme. »Ich werde doch nicht die Polizei anrufen und melden, dass da ein Toter ist, wenn das nicht stimmt!«
    Kann sein, dachte Kriminalobermeister Lorinser. Aber es gibt Leute, die sehen grüne Männchen auf der Gardinenstange. Und in Lemförde hatte er während der Durchfahrt die unverkennbaren Zeichen eines Schützenfestes bemerkt. Gut möglich, dass Hollenberg sich am Wochenende einen zu viel auf die Lampe gegossen hatte.
    »Waren Sie auf dem Volksfest?«
    »Meinen Sie, ich wäre noch beschickert und sähe Gespenster?«
    »Manche brauchen dazu noch nicht mal Alkohol.«
    »Nee, nee, was ich gesehen habe, habe ich gesehen, Herr Kommissar!«
    »Erstens Kriminalobermeister und zweitens sollten Sie mal drüber nachdenken, ob die Dämmerung Ihnen eine Leiche vorgegaukelt hat«, sagte Lorinser. Nach einem skeptischen Blick auf die Stele fügte er hinzu: »Das Seil kann auch schon länger da hängen.«
    »Gestern war er jedenfalls noch nicht da«, behauptete Hollenberg. »Ich geh jeden Morgen auf die Weide, um das Vieh zukontrollieren. Ich war gerade am Siel, als ich den Toten sah. Ich also wie angestochen auf den Trecker und rüber zu Farnebecks, und von da aus hab ich die Polizei alarmiert.«
    Um genau sechs Uhr fünfzehn. Nur zwei Minuten später hatte Polizeihauptkommissar Bredeker Lorinser mit seinem Anruf aus dem Schlaf gerissen und in seiner schadenfroh-groben Art vom Fund der Leiche im Ochsenmoor berichtet. Lorinser war widerwillig aus dem Bett gestiegen, im Kopf die vage Erinnerung an eine überaus attraktive Paula, die ihn vom Widersinn der Betonierung des Dümmerufers zu überzeugen versucht hatte und ihm trotz deutlicher Avancen in der feuchtfröhlichen Nacht abhanden gekommen war. Er hatte sich einen Instantkaffee aufgegossen und ihn während des hektischen Ankleidens schubweise in sich hineingeschüttet. Feiner Landregen war über Nacht niedergegangen und hatte die B 51 nach Lemförde fingerhoch überschwemmt. Auf dem Deichweg hatten ihn zwei Tee trinkende, heiter plaudernde Uniformierte und Hollenberg erwartet.
    »Fehlanzeige«, hatte der junge Streifenführer gesagt und sich an die Stirn getippt. »Ein verständliches Missverständnis, wenn Sie mich fragen. Manche sehen halt Sachen, die anderen verborgen bleiben.«
    Aber Irrtum ausgeschlossen, darauf hatte Hollenberg mit erhobener Schwurhand bestanden. Trotz der fehlenden Leiche. Und weil es keine gab, hatte Lorinser seinen Vorgesetzten in der Polizeiinspektion Diepholz angerufen, um zu verhindern, dass sich die gesamte Mordkommission auf den Weg machte. Dennoch: Der am überwucherten Denkmal baumelnde Strick ließ sich nicht wegdiskutieren. Und auch nicht der durchweichte, schwarze Sportschuh, einige von der Nässe aufgelöste Papiertaschentücher und ein blaues Einwegfeuerzeug.
    »Sie sagten, der Tote sei ein gewisser Böse gewesen. Was wissen Sie von ihm?«
    »Was alle wissen.«
    »Und was wissen alle?«
    Hollenberg schob mit sichtbarer Verdrossenheit die Hände in die ausgebeulten Taschen seines blauen Overalls.
    »Kein gutes Blut, das sagen sie.«
    »Das heißt?«
    »Dass der Alte ihn an Sohnes Stelle angenommen hat.«
    »Adoptiert also?«
    Hollenberg senkte den Kopf. Über den buschigen Brauen bildete sich plötzlich ein Gitternetz tiefer Falten, das von einer dünnen, dem Haaransatz zustrebenden Narbe durchschnitten wurde. Offensichtlich versuchte er herauszufinden, wie weit er in Anwesenheit eines ihm noch nicht bekannten Polizisten die Regeln der politischen Korrektheit interpretieren durfte.
    »Ist wohl schlecht gelitten, was?«
    Hollenberg blickte auf, bellte ein abgehacktes Lachen in die frische Morgenluft und reckte das Kinn.
    »Ein echter Schweinehund, das isser! Was der hier schon für Unglück angerichtet hat! Mit Saufen, mit Rauschgift, mit
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