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So zärtlich war das Ruhrgebiet

So zärtlich war das Ruhrgebiet

Titel: So zärtlich war das Ruhrgebiet
Autoren: Laabs Kowalski
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Einleitung
     
    Die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts begannen mit der
Auflösung der Beatles und endeten mit dem Mord an John Lennon.
    Nein, das ist falsch.
    Die Siebziger begannen wahrscheinlich
bereits 1969 und endeten (in meinem Fall) zwölf Jahre später, am 17.6.1980, als
die Band Led Zeppelin in der Dortmunder Westfalenhalle spielte. Robert Plant,
ihr Sänger, sah bei diesem Konzert nicht wie ein Rockgott, sondern eher wie Bernhard
Brink, der Schlagersänger, aus. Die Setlist war ebenfalls lausig. Nach
siebenjähriger Pause waren Led Zeppelin nun endlich wieder auf deutschen
Konzertbühnen zu Gast, und was boten sie einem? Ein einstündiges Ärgernis mit
Songs wie „Carouselambra“ und „Fool in the Rain“! Kein Zweifel, die Achtziger
hatten begonnen, selbst die größte Rockband der Welt rockte nicht mehr.
Instinktiv spürte man: Ein großartiges Jahrzehnt war zu Ende gegangen, die
Welt, die man geliebt hatte, gab es nicht mehr. Zeit, sich ihrer zu erinnern.
    Für mich persönlich starteten die
70er Jahre damit, dass ich in den Schulpausen vom Schulhof der Brechtener
Grundschule in Dortmund auf die Pos miniberockter Mädchen der benachbarten Hauptschule
starrte. Es wirkte, als wären die Mädchen aus ihren Röcken herausgewachsen, so
wie die gesamte Gesellschaft aus den Kleidern der Vergangenheit herausgewachsen
war, um sich nun kindlich und naiv allem zuzuwenden, wenn es nur bunt, schrill
und irrational war.
    Wir wuchsen auf in einem Meer
schreiender Farben. Ebenso war das Design plötzlich aus den Fugen geraten,
entwickelte ein grelles Eigenleben und wartete mit Formgebungen auf, die uns
heute verblüffen. Was war los mit den Menschen jener Ära, die optisch in der
übergeschnappten Ästhetik ihrer Dekade verschwanden und in irrsinnig
gemusterten Polyester-Pullovern vor gelbvioletten Tapetenmonstern für ein Foto
posierten, auf dem sie sich in aberwitzigen Farbkontrasten verloren und beinahe
unsichtbar wurden? Niemand vermag das heute präzise zu sagen. Es war, als hätte
sich die gesamte Menschheit willentlich in eine Sphäre der Wahrnehmung
versetzt, in der die Regeln des guten Geschmacks keine Gültigkeit hatten.
    In den Hitparaden tummelten sich
tuntige Freaks wie Marc Bolan, Chris Roberts, Gary Glitter und die Osmonds.
Gymnasiasten hörten sperrige Kraut- und Progrock-Musik von Bands wie Gentle
Giant, Nektar und Amon Düül 2. Es gab ein kurzes Rock’n’Roll-Revival, der
Pubrock erlebte eine kurze Blütezeit, der Disco-Sound eroberte und veränderte
die Jugend der Welt, Reggae wurde populär, und daneben gab es eine Fülle alt-
und neumodischer Vielfalt, die jede Überschaubarkeit hinter sich ließ. Viele
Künstler, die in den Sechzigern erfolglos versucht hatten, an die Spitze zu
kommen, wurden nun als Genies und Götter gefeiert. David Bowie und die vier
Musiker von Pink Floyd stiegen in die Liga der Superstars auf. Alles, wirklich
alles schien möglich.
    Gerechterweise muss hinzugefügt
werden, dass ein Großteil des musikalischen Unrats, den die Siebziger ausspieen,
zum Zeitpunkt des Erscheinens etwas Magisches hatte. Dasselbe Phänomen, das
bewirkte, dunkelbraun gestrichene Raufasertapeten in Verbindung mit grün
lackierten Türrahmen für das Nonplusultra progressiver Raumgestaltung zu
halten, trieb auch in der Popmusik seine seltsamen Blüten. Und dieses Phänomen
betraf nicht nur den Rock. Auch im deutschen Schlager tauchte Seltsames auf. Ein
in Hamburg lebender Waldschrat namens Willem, der zur so genannten Hamburger
Szene gehörte, eroberte mit seinem Lied Tarzan ist wieder da Spitzenpositionen, auch Frank Zander mischte mit Oh Susi ganz vorne mit,
und Vader Abraham krönte diese Reihe musikalischen Schnickschnacks mit seinem Lied
der Schlümpfe , das europaweit den Radioäther verseuchte.
    Wie in der Musik, so
präsentierten sich auch die Fernsehserien mit Vorliebe realitätsfern.
Science-Fiction hatte Hochkonjunktur. Die Serien UFO , Raumbasis Alpha und Die Mädchen aus dem Weltenraum wären da zu nennen , und selbst
die Spielzeugdesigner der britischen Firma Matchbox rasteten aus und entwarfen
Spielzeugautos, in denen die Wirklichkeit nur noch als Marginalie anzutreffen
war.
    Von all diesem liebenswerten
Irrsinn soll in diesem Buch die Rede sein sowie von den einenden Kollektiv-Erfahrungen,
die die Siebziger denen, die in ihnen heranwuchsen, gaben. Denn nie wieder danach
waren die persönlichen Erlebnisse von Kindern und Jugendlichen so identisch und
ubiquitär wie in den uns heute
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