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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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Arbeit und hörte erst spätabends auf. Es lag an den Materialien, dass die Bücher so schäbig waren, an Materialien, die der Staat ihm zuteilte. Zwar wurden die Inhalte akademischer Publikationen akribisch überwacht, bei der Bewilligung von Produktionsmitteln jedoch nicht gerade bevorzugt. So kam es, dass Suren in der Systemfalle der Quotierung steckte und gezwungen war, in kürzester Zeit dem schlechtesten Papier eine große Stückzahl von Büchern abzuringen.
    Dieses Missverhältnis änderte sich nie, er war ihm ausgeliefert und äußerst beschämt, wie schlecht sein Ruf geworden war. Man machte sich über ihn lustig. Mit von Druckerschwärze verschmierten Fingern witzelten die Studenten und Professoren, dass aus Moskwins Büchern wirklich etwas haften blieb. Derart lächerlich gemacht, fand Moskwin es zunehmend schwierig, morgens überhaupt noch aufzustehen. Er aß nicht ordentlich und trank sich stattdessen durch den Tag, die Flaschen verstaute er in Schubladen und hinter Bücherregalen. Mit fünfundfünfzig Jahren hatte er noch einmal etwas Neues an sich entdeckt dass er nämlich öffentliche Demütigungen nur schwer verdauen konnte.
    Als er jetzt seine Linotype-Setzmaschinen inspizierte und dabei über sein Versagen brütete, bemerkte er einen jungen Mann, der in der Tür stand. Misstrauisch sprach Suren ihn an: »Ja? Was gibt es? Ist das normal, dass man einfach unangekündigt so dasteht?«
    In typischer Studentenkluft, einem langen Mantel und einem billigen schwarzen Schal, trat der Mann vor. Er hielt Suren ein Buch hin. Suren riss es ihm aus den Händen und machte sich auf eine weitere Beschwerde gefasst. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Einband: Lenins Staat und Revolution. Letzte Woche hatten sie eine neue Ausgabe gedruckt und erst gestern oder vorgestern ausgeliefert. Dieser Mann da war offenbar der Erste, dem aufgefallen war, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein Fehler in einem solch grundlegenden Werk war eine ernste Sache, unter Stalin hätte das ausgereicht, um verhaftet zu werden. Der Student beugte sich vor, öffnete das Buch und blätterte vor. Auf dem Innentitel war ein Schwarzweißfoto abgedruckt.
    Der Student bemerkte: »Die Bildunterschrift besagt, dass dies ein Foto von Lenin sei. Aber wie Sie sehen können ...«
    Das Foto zeigte einen Mann, der Lenin nicht im Entferntesten ähnlich sah. Er stand vor einer Mauer, einer kalkweißen Mauer. Die Haare standen ihm zu Berge, und sein Blick war gehetzt.
    Geräuschvoll schlug Suren das Buch zu und wandte sich dann an den Studenten: »Glauben Sie etwa, ich hätte Tausende Exemplare dieses Buches mit einem falschen Foto gedruckt? Wer sind Sie überhaupt? Wie heißen Sie? Warum tun Sie das? Mein Problem ist die Materialknappheit, nicht Schludrigkeit!«
    Er schubste den Studenten zurück und schlug ihm das Buch gegen die Brust. Der Schal um dessen Hals löste sich und entblößte Teile einer Tätowierung. Dieser Anblick ließ Suren innehalten. Eine Tätowierung passte so gar nicht zu der studentischen Aufmachung. Niemand außer den wory, den Berufsverbrechern, hätte seine Haut derart gezeichnet.
    Surens Entrüstung war die Wucht genommen, und der Mann nutzte sein Zaudern und eilte hinaus. Immer noch das Buch in der Hand lief Suren ihm halbherzig nach und sah, wie er in der Nacht verschwand.
    Mit einem mulmigen Gefühl schloss er die Tür und verriegelte sie. Etwas beunruhigte ihn: das Foto. Er kramte seine Brille hervor, öffnete das Buch und studierte das Gesicht etwas eingehender: diese angstgeweiteten Augen! So wie ein Geisterschiff aus dem dichten Nebel des Meeres auftaucht, fing Suren an zu dämmern, wer dieser Mann war. Er kannte ihn, das Gesicht war ihm vertraut. Seine Haare waren so zerzaust und sein Blick so gehetzt, weil man ihn aus dem Bett gezerrt und verhaftet hatte. Suren erkannte die Fotografie, weil er sie selbst aufgenommen hatte.
    Suren hatte nicht immer eine Druckerei geleitet. Zuvor war er beim MGB gewesen. In zwanzig Jahren treuer Dienste hatte er viele seiner Vorgesetzten überdauert. Er hatte die verschiedensten banalen Pflichten übernommen, Zellen gesäubert oder Gefangene fotografiert. Sein niedriger Rang war ihm zustattengekommen, und er hatte genügend Grips besessen, nicht nach Höherem zu streben. Weil er nie auffiel, entging er auch den Säuberungsaktionen, denen die höheren Befehlsebenen regelmäßig anheimfielen. Man hatte ihm unangenehme Sachen abverlangt, und er hatte seine Pflicht unerschütterlich erfüllt.
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