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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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seine Arbeit zerstören könnte, und hat uns seine Kompositionen anvertraut. Vieles davon war als antisowjetisch gebrandmarkt worden.«
    »Warum?«
    »Ich weiß es nicht. Er wusste es selbst nicht. Er hatte niemanden, an den er sich wenden konnte, keine Familie oder Freunde, denen er vertrauen konnte. Deshalb kam er zu uns. Wir erklärten uns bereit, sein Lebenswerk an uns zu nehmen. Kurz darauf ist er verschwunden.
    Maxim warf einen flüchtigen Blick auf die Noten. »Die Musik ... ist sie gut?«
    »Wir haben sie noch nie gehört. Wir trauen uns nicht, sie jemandem zu zeigen oder uns vorspielen zu lassen. Man könnte Fragen stellen.«
    »Ihr habt überhaupt keine Vorstellung davon, wie sie klingt?«
    »Ich kann keine Noten lesen. Meine Frau auch nicht. Aber darum geht es hier nicht, Maxim. Als ich versprach, dem Mann zu helfen, ging es dabei nicht um den künstlerischen Rang seiner Arbeit.«
    »Ihr riskiert euer Leben. Wenn sie nun wertlos ist...«
    Lasar berichtigte ihn: »Was wir schützen, sind nicht diese Noten. Was wir schützen, ist ihr Recht zu überleben.«
    Anisja machte die Selbstgefälligkeit ihres Mannes wütend. Schließlich war der junge Komponist, um den es hier ging, zu ihr gekommen, nicht zu ihm. Danach hatte sie Lasar angefleht und ihn dazu überredet, sich der Musik anzunehmen. Als er jetzt die Geschichte weitererzählte, verschwieg er nicht nur geflissentlich seine eigenen Zweifel und Ängste, sondern stellte überdies Anisja lediglich als passive Befürworterin dar. Sie fragte sich, ob ihm überhaupt bewusst war, wie er die wahre Geschichte zurechtgedrechselt hatte, um seine eigene Bedeutung hervorzuheben, sich selbst im Nachhinein in den Mittelpunkt zu rücken.
    Lasar nahm die komplette Loseblattsammlung der Noten, insgesamt vielleicht zweihundert Seiten. Zwischen den Noten befanden sich Dokumente über Kirchenangelegenheiten und mehrere echte Ikonen, die man hier verborgen und durch Reproduktionen ersetzt hatte. Fieberhaft sortierte er alles in drei Stapel und achtete dabei so gut es ging darauf, dass einzelne Kompositionen zusammenblieben. Der Plan war, alles in etwa gleich großen Tranchen hinauszuschmuggeln. Wenn man es auf drei Päckchen aufteilte, bestand eine realistische Chance, dass ein Teil der Musik überleben würde. Die Schwierigkeit bestand darin, drei verschiedene Verstecke zu finden sowie drei Menschen, die bereit wären, ihr Leben für Notenblätter aufs Spiel zu setzen, obwohl sie weder dem Komponisten je begegnet waren noch seine Musik gehört hatten. Lasar wusste, dass viele aus der Gemeinde ihm helfen würden. Und die waren vermutlich auch aus dem einen oder anderen Grund verdächtig. Für diese Aufgabe brauchten sie die Hilfe eines perfekten Sowjetmenschen, von jemandem also, dessen Wohnung nie und nimmer durchsucht werden würde. Und ein solcher Mensch, wenn es ihn überhaupt gab, würde ihnen niemals helfen.
    Anisja machte ein paar Vorschläge.
    »Martemjan Systow.«
    »Eine Plaudertasche.«
    »Artjom Nachajew.«
    »Der würde sich bereiterklären, die Noten an sich nehmen, es dann aber mit der Angst kriegen, die Nerven verlieren und sie verbrennen.«
    »Njura Dmitrijewa.«
    »Sie würde zwar Ja sagen, uns aber dafür hassen, dass wir sie gefragt haben. Sie würde nicht mehr schlafen und nichts mehr essen.«
    Letzten Endes blieben zwei Namen übrig, auf mehr konnten sie sich nicht einigen. Lasar beschloss, einen Teil der Kompositionen zusammen mit den größeren Ikonen weiterhin in der Kirche versteckt zu halten. Er würde sie in die Kiste zurücklegen und den Altar wieder an seine Stelle rücken. Da Lasar auf jeden Fall verfolgt werden würde, sollten Anisja und Maxim je einen Teil der Noten zu den beiden Adressen schaffen.
    Anisja war bereit. »Ich gehe als Erste.«
    Maxim schüttelte den Kopf. »Nein, ich.«
    Sie erriet, warum er das vorschlug. Wenn Maxim entwischte, dann gab es eine gute Chance, dass auch sie davonkommen würde.
    Sie hoben den schweren Balken, der die Haupttür verriegelte, weg. Anisja spürte, wie Maxim zögerte. Bestimmt hatte er Angst, jetzt wo ihm seine gefährliche Lage klar wurde.
    Lasar schüttelte ihm die Hand. Über die Schultern ihres Mannes hinweg sah Maxim sie an. Als Lasar sich verabschiedet hatte, trat Maxim zu ihr.
    Sie umarmte ihn und sah ihm nach, wie er in der Nacht verschwand.
    Lasar verriegelte die Tür wieder, dann ging er nochmals den Plan durch. »Warte zehn Minuten.«
    Allein mit ihrem Mann, stand sie ein wenig hilflos vor der
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