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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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den Akten genommen.
    Orlow trat an den Notenständer und musterte die wenigen Noten, die noch übrig waren.
    »Ich kann keine Noten lesen«, erklärte Leo. »Deshalb weiß ich auch nicht, ob noch genug übrig ist, um einen Gesamteindruck des Stücks zu bekommen. Ich wollte nur einmal hören, wie es klingt, wenn es gespielt wird. So viel wie möglich.«
    Orlow klemmte die Geige unter sein Kinn, nahm den Bogen und begann zu spielen. Leo war alles andere als musikalisch, außerdem hatte er ein langsames, trauriges Stück erwartet. Stattdessen war es schnell und mitreißend. Es gefiel ihm sehr.
    Leo brauchte einen Moment, bis er merkte, dass Orlow mit den wenigen Noten, die er bekommen hatte, unmöglich so lange hätte spielen können. Trotz seiner Überraschung wartete er höflich auf das Ende.
    »Das ist gerade sehr populär. Eine der erfolgreichsten Kompositionen der letzten Jahre.«
    »Aber Sie müssen sich irren! Diese Musik galt als verschollen! Der Komponist ist gestorben, bevor sie aufgeführt werden konnte.«
    Orlow schaute verblüfft drein. »Das Stück ist erst letzte Woche gespielt worden. Der Komponist lebt.«

    Im Flur eines exklusiven Wohnblocks klopfte Leo an die Tür. Er musste lange warten, bis ein Mann mittleren Alters die Tür aufmachte. Es war ein Diener mit einer schmucken schwarzen Livree.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Ich möchte zu Robert Meschik.«
    »Haben Sie einen Termin?«
    »Nein.«
    »Ohne Termin empfängt er niemanden.«
    Leo reichte ihm das angekohlte Notenblatt. »Mich wird er empfangen.«
    Zögernd fügte der Mann sich. »Warten Sie hier.«
    Einige Minuten später kehrte der Diener zurück, ohne das Notenblatt. »Bitte folgen Sie mir.«
    Leo folgte ihm durch eine teuer eingerichtete Wohnung in ein weiter hinten gelegenes Musikzimmer. Der Komponist Robert Meschik stand am Fenster, in den Händen hielt er das Notenblatt. Er wandte sich an seinen Diener. »Sie können gehen.« Der Diener entfernte sich.
    »Ihnen scheint es ja nicht schlecht zu gehen«, bemerkte Leo.
    Meschik seufzte. »Irgendwie bin ich sogar erleichtert. Seit Jahren habe ich auf den Moment gewartet, wo jemand auftaucht und mich als Betrüger entlarvt.«
    »Kannten Sie den wahren Komponisten?«, fragte Leo.
    »Kyrill? Ja, wir waren Freunde. Sehr gute Freunde sogar. Wir haben immer zusammen geübt. Ich war neidisch auf ihn. Kyrill war ein Genie. Ich bin keins.«
    »Haben Sie ihn denunziert?«, fragte Leo.
    »Nein, wo denken Sie hin? Ich habe ihn geliebt, das können Sie mir glauben. Als er dann verhaftet wurde, habe ich natürlich trotzdem nichts unternommen und den Mund gehalten. Er und sein Lehrer wurden in ein Arbeitslager gesteckt. Nach Stalins Tod habe ich versucht, Kyrill zu finden, aber es hieß, er habe nicht überlebt. Ich habe um ihn getrauert. Dann hatte ich den Einfall, eins von Kyrills Werken neu niederzuschreiben, zu seinem Gedenken. Es gab zwar keine Noten mehr, aber das machte nichts. Schließlich hatte ich ihn seine Stücke so oft spielen hören, dass sie mir in Fleisch und Blut übergegangen waren. Ich nahm nur ein paar kleine Veränderungen vor. Und das Stück wurde ein Erfolg.«
    »Aber woher es stammte, haben Sie nicht erklärt.«
    »Ich wurde so gepriesen, dass ich mich davon verführen ließ. Seitdem habe ich jedes Stück neu aufgeschrieben, an das ich mich noch erinnern konnte, immer nur mit kleinen Änderungen. Das Lob dafür habe ich ebenso eingestrichen wie die ganzen Vergünstigungen. Kyrill hatte keine Familie, müssen Sie wissen. Er hatte gar niemanden. Und niemand hatte an ihn geglaubt. Keiner kannte also seine Musik außer seinem Lehrer. Und mir.«
    »Einen Menschen gab es schon noch.«
    »Wen?«
    »Die Frau eines Priesters.«
    »Haben Sie mich durch sie gefunden?«
    »In gewisser Weise ja.«
    Nach einer Pause fragte er: »Wollen Sie mich jetzt verhaften?«
    Leo schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Befugnis, Sie zu verhaften.«
    Meschik schien nicht zu verstehen. »Dann werde ich morgen früh aller Welt die Wahrheit sagen.«
    Leo schlenderte durch das Zimmer und schaute aus dem Fenster. Draußen hatte es angefangen zu schneien, Kinder tollten in den Flocken herum. »Was wollen Sie denn sagen? Dass der Staat ein Genie ermordet hat und Sie dessen Musik gestohlen haben? Wem wäre mit so einem Geständnis schon gedient? Wer wollte es hören?«
    »Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«
    Draußen bildete sich bereits eine dünne Schneedecke.
    »Einfach weitermachen wie bisher.«

    Am selben
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