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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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weg und beugte sich vor. Seine Finger strichen über die klaffende Wunde und öffneten sie - Blut trat aus. Der Arzt untersuchte den Rücken des Jungen und fand keine Austrittswunde. Zum ersten Mal sah er Leo an. Er sprach kein Wort, schüttelte nur kaum merklich den Kopf und hastete weiter.
    Soja umklammerte Leos Arm. »Warum helfen sie ihm nicht?«
    Leo war Soldat gewesen, er kannte solche Verletzungen. Das Blut war schwarz, und das bedeutete, dass das Schrapnell in Malyschs Leber eingedrungen war. Auf dem Schlachtfeld gab es in einem solchen Fall keine Hoffnung mehr, und hier in diesem Krankenhaus herrschten kaum bessere Bedingungen. Sie waren machtlos.
    »Warum behandeln sie ihn nicht?«
    Leo wusste nicht, was er sagen sollte.
    Unsanft rempelte Soja sich durch die Menge, riss den Arzt am Arm und versuchte, ihn zu Malysch zurückzuzerren. Die anderen Leute in der Menge fingen an zu zetern, aber Soja ließ nicht nach, bis er sie schließlich zurückstieß und anbrüllte. Sie stürzte zwischen die Beine der anderen Leute. Raisa half ihr auf die Füße.
    »Warum helfen sie ihm nicht?« Soja fing an zu weinen und legte ihre Hände auf Malyschs Gesicht.
    Dann blickte sie zu Leo auf, ihre geröteten Augen flehten ihn an. »Bitte, Leo, bitte! Ich will auch alles machen, was du willst. Ich will deine Tochter sein, will fröhlich sein. Aber lass ihn nicht sterben.«
    Malysch bewegte die Lippen. Leo beugte sich hinab und hörte angestrengt zu.
    »Nicht ... hier ... drin.«

    Auf der Suche nach einem Ort, wo sie allein sein konnten, trug Leo Malysch vorbei am blutverschmierten Empfang zum Eingang und durch die Tür. Draußen in den toten Blumenbeeten, deren Erde schon gefroren war, hockte er sich hin und lehnte Malyschs Kopf an sein Bein. Soja setzte sich neben ihn und nahm Malyschs Hand.
    Raisa blieb stehen, rastlos ging sie auf und ab. »Vielleicht können wir ihm wenigstens etwas besorgen, was die Schmerzen lindert.«
    Leo sah auf und schüttelte den Kopf. Nach den zwölftägigen Kämpfen würde in der Klinik nichts mehr aufzutreiben sein.
    Malysch war still und matt, immer wieder fielen ihm die Augen zu. Sein Blick suchte Raisa. »Ich weiß, dass...«
    Seine Stimme war kaum zu verstehen. Raisa setzte sich neben ihn. Malysch fuhr fort. »Frajera ... hat gelogen. Ich weiß, dass du ... nicht... meine Mutter bist.«
    »Nichts wäre ich lieber gewesen als deine Mutter.«
    »Ich hätte das auch schön gefunden ... dein Sohn zu sein.«
    Malysch schloss die Augen und lehnte seinen Kopf an den von Soja. Sie lag neben ihm, ihr Gesicht ganz nah an seinem, so als würden sie beide gleich einschlafen. Dann umarmte sie ihn und flüsterte: »Habe ich dir eigentlich schon von dem Bauernhof erzählt, auf dem ich mit dir wohnen will?«
    Malysch gab keine Antwort, er hielt die Augen geschlossen.
    »Er liegt ganz in der Nähe von einem Wald, in dem es lauter Beeren und Pilze gibt. Außerdem ist da ein Fluss, und im Sommer gehen wir darin schwimmen. Wir werden sehr glücklich miteinander sein.«

    Am selben Tag

    Frajera stand auf den Trümmern des Daches. Sie hielt kein Gewehr mehr in den Händen, sondern eine Kamera, mit der sie die Verheerungen fotografierte. Bald schon würden diese Bilder in der ganzen Welt abgedruckt werden. Selbst wenn die letzte Rolle Film, die sie mittlerweile eingelegt hatte, verloren ging, war das egal. Frajera hatte mittlerweile schon Hunderte von Fotos geschossen und mit Hilfe der Familienangehörigen von Dissidenten oder der internationalen Presse aus der Stadt geschmuggelt. Noch in Jahren würde man ihre Bilder von den toten Einwohnern und den zerstörten Häusern veröffentlichen, immer mit dem Hinweis: Quelle unbekannt.
    Vielleicht zum ersten Mal, seit man ihr vor beinahe sieben Jahren den Sohn genommen hatte, fühlte sie sich einsam. Malysch war nicht bei ihr, und auch sonst sprang keiner herbei, sobald sie rief. Die Bande, die sie in Jahren zusammengefügt hatte, war auseinandergebrochen. Die Letzten ihrer wory waren geflohen. Die Aufständischen um sie herum waren zerstreut worden, und bei der ersten Angriffswelle heute Morgen waren viele gestorben. Frajera hatte ihre Leichen fotografiert. Ihr Übersetzer, Zsolt Polgar, war bis zuletzt an ihrer Seite geblieben. In ihm hatte sie sich getäuscht. Er war für seine Sache gestorben. Mit seinem Foto, als er sterbend dalag, hatte sie sich besondere Mühe gegeben.
    Jetzt waren nur noch drei Bilder übrig. In der Ferne kreiste ein Kampfbomber, dann schoss er auf
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