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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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und daraus ein Stirnrunzeln zu machen.
    Als sie auf dem Fenstersims stand, hob Leo sie hoch.
    Sie klammerte sich an die Dachkante. »Du musst loslassen, damit ich mich hochschwingen kann!«
    Zögernd ließ Leo los und sah zu, wie sie ein Bein auf das Dach schwang. Im nächsten Moment packte Malysch sie und zog sie hinauf. Die zusammengeknoteten Tischdecken spannten sich.
    »Ich bin oben.«
    Raisa ließ die Tischdecken los, und Soja zog das improvisierte Sicherungsseil nach. Dann war Raisa an der Reihe. Leo stieg als Letzter hoch.
    Das Dach erhob sich zu einem schmalen Giebel, auf dem Malysch und Soja hockten. Raisa war ein Stück hinter ihnen. Als Leo zu ihnen kletterte, löste sich eine der Pfannen, schepperte das Dach hinunter und fiel über die Kante. Es dauerte einen Moment, bevor man sie auf die Gasse schlagen hörte. Die vier hielten den Atem an und drückten sich flach gegen das Dach. Wenn eine Dachpfanne auf die andere Seite abrutschte und auf die Hauptstraße fiel, würde sie den patrouillierenden Panzern verraten, wo sie waren.
    Leo blickte um sich. Überall in der Stadt stiegen mächtige Rauchsäulen auf. Dächer waren eingestürzt, und wo einst Häuser gestanden hatten, klafften jetzt Lücken. MIG-Bomber schossen im Tiefflug über die Stadt, stießen zum Angriff noch weiter hinab und nahmen ihre Ziele unter Beschuss. Hier oben auf dem Dach wären sie gut zu sehen.
    »Wir müssen uns beeilen«, drängte Leo.
    Auf allen vieren krochen sie los, vorbei an den drohenden Gefahren auf der Straße. Endlich kamen sie wieder ein wenig voran.
    Ein Stück weiter vorn stand das letzte Haus. Sie hatten das Ende der Straßenflucht erreicht.
    Malysch erklärte: »Wir müssen runter, über die Straße und auf der anderen Seite wieder rauf.«
    Die Dachpfannen fingen an zu scheppern. Leo ließ sich das Dach hinunter und spähte über den Rand. Direkt unter ihm fuhren vier Panzer vorbei. Einer nach dem anderen bog von der Hauptstraße ab. Bestürzt beobachtete Leo, wie der vierte stehen blieb. Offenbar sollte er die Kreuzung überwachen. Um den würden sie sich irgendwie herumschleichen müssen.
    Leo wollte umkehren und den anderen die schlechte Nachricht überbringen, da nahm er in dem Wohnungsfenster direkt unter sich eine Bewegung wahr. So weit es ging, reckte er sich vor und sah, wie zwei Frauen aus dem obersten Fenster die neue ungarische Fahne hängten, aus der Hammer und Sichel herausgeschnitten waren. Der Panzer hatte die Widerständler bemerkt. So schnell es ging, kroch Leo das Dach wieder hinauf und gestikulierte den anderen zu: »Sofort weg da!«
    Sie krochen über den Dachfirst auf die der Straße abgewandte Seite.
    Dann flog hinter ihnen das ganze Dach in die Luft. Trümmer regneten hinab. Durch die Druckwelle kamen alle Dachpfannen ins Rutschen. Malysch, der der Kante am nächsten war, hatte plötzlich keinen festen Boden mehr unter den Füßen und stürzte mitsamt dem Dach ab. Soja warf ihm die Tischdecke zu, Malysch erwischte gerade noch einen Zipfel, bevor auch schon sämtliche Dachpfannen wie eine Lawine abrutschten und ihn mitrissen.
    Auch Soja wurde von Malysch mitgezogen. Verzweifelt versuchte sie sich irgendwo festzuhalten, fand aber nichts. Leo streckte die Hand aus, verfehlte sie, erwischte aber einen Tischdeckenzipfel und schaffte es, den Fall der beiden aufzuhalten. Soja hing jetzt über der Dachkante, Malysch baumelte unter ihr. Wenn der Panzer Malysch entdeckte, würde er feuern, und sie wären alle tot. Leo versuchte die Tischdecke nach oben zu zerren.
    Raisa reckte den Arm vor. »Nimm meine Hand!«
    Sie umklammerte Malyschs Hand und zog ihn hoch, dann blieben die beiden nebeneinander liegen. Leo rollte sich bis zum Rand und spähte auf den Panzer unter ihnen. Das Rohr drehte sich in ihre Richtung. »Weg hier!«
    Alle sprangen auf und kraxelten auf die andere Seite, wo die zerschossene Wohnung lag. Hinter ihnen schlug die Granate ein, genau an der Kante, an der Malysch abgerutscht war. Alle wurden in die Luft geschleudert und kamen auf allen vieren wieder auf. Halb taub und hustend besahen sie sich die Zerstörung vor und hinter ihnen: Zwei Löcher klafften in dem Gebäude, so als ob ein riesiges Ungeheuer zweimal zugebissen hätte.
    Leo verschaffte sich einen Überblick über die unter ihnen liegende, ausgebombte Wohnung. Die erste Granate war weit oben eingeschlagen, hatte das Dach zum Einsturz gebracht und das oberste Stockwerk in das darunterliegende krachen lassen. Über die zerborstenen
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