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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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sich an fast jeder Kreuzung hatten Deckung suchen müssen, hatten sie in zwei Stunden noch nicht einmal einen Kilometer geschafft. Jetzt brach schon der Morgen an, und ohne den Schutz der Dunkelheit würden sie sogar noch langsamer vorankommen. Sie waren in einer Stadt eingeschlossen, die systematisch dem Erdboden gleichgemacht wurde. Auch wenn man in den Häusern blieb, war das mittlerweile keine Garantie mehr, dass einem nichts passierte. Die Panzer waren mit schweren Granaten ausgerüstet, die drei Zimmer durchschlugen, bevor sie mitten in den Gebäuden detonierten und alles zum Einsturz brachten.
    Angesichts einer solchen Demonstration militärischer Stärke fragte Leo sich unwillkürlich, ob der erste Fehlversuch, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen, nicht vielleicht sogar Absicht gewesen war. Denn was hier passierte, stand nicht nur im krassen Gegensatz zu jeglicher Position moderaten Eingreifens, es veranschaulichte auch gleichzeitig die Ineffizienz der älteren Waffen, die sogar von einem Mob ausgeschaltet worden waren. Jetzt aber stellte man auf den Straßen von Budapest das neueste Kriegsgerät vor wie in einem Propagandafilm des Militärs. Jeder, der das in Moskau zu sehen bekam, konnte nur eine Schussfolgerung ziehen: Alle Pläne, die konventionellen Streitkräfte abzubauen, waren falsch. Man musste nicht weniger, sondern mehr Geld in die Entwicklung neuer Waffen stecken. Die Stärke des gesamten Sowjetblocks hing davon ab.
    Aus dem Augenwinkel registrierte Leo ein orangefarbenes Flackern, das sich deutlich von den grauen Steintrümmern und dem trüben Morgenlicht abhob. Drei junge Männer auf der anderen Straßenseite zündeten ihre Molotowcocktails an. Wild mit den Armen wedelnd, versuchte Leo, auf sich aufmerksam zu machen. Mit Benzinbomben würden sie nichts ausrichten können, weil, anders als beim T -34, die Motorkühlung des T -54 nicht mehr der Schwachpunkt war. Die da drüben kämpften hier gegen eine vollkommen andere Waffengeneration, gegen die ihre primitive Ausrüstung wirkungslos war.
    Die drei Männer sprangen auf und rannten auf den letzten Panzer zu. Sie warfen ihre selbstgebastelten Bomben, die alle perfekt trafen und das Heck des T -54 brennendem Benzin überzogen. Flammen schossen hoch. Während sie sich davonmachten, blickten sie über die Schulter und warteten auf die Explosion, die jedoch mit Sicherheit ausbleiben würde. Das Feuer mochte zwar lodern, doch anhaben konnte es dem Panzer nichts. Die Männer rannten schneller und suchten nach Deckung. Leo duckte sich. Der Panzer wendete und feuerte. Das ganze Cafe erzitterte, und die letzten Glasscherben im Fenster prasselten zu Boden. Durch das Loch quollen Staub und Qualm herein. Im Schutz der Wolke zog sich Leo hustend zurück und kroch über das zerbrochene Geschirr auf die Küche zu, wo Raisa, Soja und Malysch hinter den eisernen Öfen hockten.
    »Die Straßen sind unpassierbar.«
    Malysch deutete auf das Dach. »Was ist mit den Dächern? Über die könnten wir kriechen.«
    Leo dachte nach. »Aber wenn sie uns sehen oder hören, werden sie auf jeden Fall feuern. Und von da oben kann man viel schlechter fliehen. Da säßen wir in der Falle.«
    »Hier unten erst recht«, warf Raisa ein.
    Auf dem obersten Treppenabsatz gab es zwei Fenster. Eines wies zur Hauptstraße hinaus, das andere auf eine kleine Gasse an der Rückfront, die zu schmal für einen T -54 war - Leo öffnete das Hinterfenstet und überlegte, wie sie dort hochkommen sollten. Es gab keine Regenrinne und auch nichts, worauf man den Fuß setzen konnte, um leichter nach oben zu kommen.
    Malysch stieß ihn an. »Lassen Sie mich mal sehen.«
    Leo machte Malysch auf dem Fenstersims Platz. Der schätzte kurz die Entfernung ab, dann sprang er hoch und hielt sich an der Kante fest, seine Beine baumelten herab. Leo wollte ihm helfen, doch Malysch rief herunter: »Es geht schon.«
    Er zog sich hoch, schwang erst den einen Fuß über die Kante, dann den anderen.
    »Als Nächste ist Soja dran«, rief er.
    Soja blickte hinunter. Es ging fünfzehn Meter in die Tiefe.
    »Warte.«
    Raisa nahm die Tischdecken, die Leo sich um die Hände gewickelt hatte, verknotete sie und band sie dann um Sojas Taille.
    Soja passte das nicht. »Ich bin monatelang allein klargekommen. «
    »Deshalb wäre es auch furchtbar peinlich, wenn du ausgerechnet jetzt sterben würdest«, gab Raisa zurück. Dann küsste sie Soja auf die Stirn.
    Soja schaffte es gerade noch, ein Grinsen zu unterdrücken
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