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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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sämtliche religiösen Gefühle aus ihrem Herzen verbannt. Er wollte nicht mit Männern zusammenarbeiten, die nicht vollkommen hinter der Sache standen.
    Fünf Tage arbeitete er nun schon vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang. Er hatte jede Sprengladung selbst angebracht und sie so positioniert, dass das Gebäude auf jeden Fall nach innen in sich zusammenfallen würde, eine Kuppel fein säuberlich über der anderen. Eine Sprengung war beileibe keine chaotische Angelegenheit, ganz im Gegenteil. Sorgfalt und Präzision zeichnete seine Arbeit aus, und auf diese Kunst war er besonders stolz. Dieses Bauwerk hier stellte eine ungewöhnliche Herausforderung dar. Nicht etwa wegen der moralischen Frage, sondern wegen der intellektuellen Aufgabe. Angesichts des Glockenturms und der fünf vergoldeten Kuppeln, deren größte auf achtzig Meter hohen Bögen ruhte, würde die heutige Sprengung einen würdigen Abschluss seiner Karriere darstellen. Danach hatte man ihm den vorzeitigen Ruhestand versprochen. Selbst davon, ihm den Lenin-Orden zu verleihen, war die Rede gewesen, Lohn für einen Auftrag, den sonst keiner übernehmen wollte.
    Er schüttelte den Kopf. Er sollte nicht hier sein. Er sollte so etwas nicht tun. Er hätte sich krankmelden sollen. Er hätte jemand anderen zwingen sollen, die alles entscheidende Sprengladung anzubringen. Das hier war keine Arbeit für einen Helden. Aber wenn man sich vor der Arbeit drückte, waren die Risiken viel größer und viel realer als irgendeine abergläubische Idee, dass der Auftrag verflucht sein könnte. Er hatte eine Familie zu beschützen, seine Frau und eine Tochter. Und die beiden liebte er über alles.

    * * *

    Lasar stand in der Menge, die in einem Sicherheitsabstand von hundert Metern von der Kirche der Heiligen Sophia ferngehalten wurde. Sein ernstes Gebaren stach aus dem aufgeregten Geschnatter der Menschen um ihn herum heraus. Das war die Sorte Leute, dachte er, die wohl auch zu einer öffentlichen Hinrichtung gekommen wären, nicht aus Überzeugung, sondern einfach nur wegen des Spektakels, weil was los war. Die Stimmung war ausgelassen, voller Vorfreude sprudelten die Gespräche. Kinder wippten auf den Schultern ihrer Väter, sie konnten kaum erwarten, dass es losging. Eine Kirche allein reichte ihnen nicht, die Kirche musste schon in sich zusammenfallen, damit sie ihren Spaß hatten.
    Vorne an der Absperrung bauten auf einer eigens errichteten erhöhten Bühne Filmleute ihre Stative und Kameras auf. Dabei diskutierten sie, aus welchem Blickwinkel man die Sprengung wohl am besten aufnehmen konnte. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass man auch ja alle fünf Kuppeln im Visier hatte, und es wurde ernsthaft darüber spekuliert, ob sie wohl schon in der Luft auseinanderbrechen würden, wenn sie ineinanderkrachten, oder erst auf der Erde. Das hing, vermutete man, vom Können der Experten ab, die da drinnen das Dynamit anbrachten.
    Lasar fragte sich, ob ein paar in der Masse wohl auch traurig waren. Auf der Suche nach Gesinnungsgenossen blickte er nach rechts und nach links - in einiger Entfernung stand ein Ehepaar, beide stumm und aschfahl im Gesicht, die ältere Frau ganz am Rand hatte eine Hand in der Jackentasche stecken. Sie verbarg etwas, vielleicht ein Kruzifix. Lasar hätte gern die Menge geteilt, die Trauernden von den Schaulustigen getrennt. Er hätte gern an der Seite derer gestanden, die begriffen, was hier verloren gehen würde: eine dreihundert Jahre alte Kirche, erbaut nach dem Vorbild der Kathedrale der Heiligen Sophia in Gorki, deren Namen sie auch trug. Bürgerkriege und Weltkriege hatte sie überdauert, und der jüngste Bombenschaden war eher ein Grund gewesen, sie zu erhalten, als sie zu zerstören. Mit Wut im Bauch hatte Lasar den Artikel in der Prawda gelesen, in dem von Baufälligkeit die Rede gewesen war - nichts weiter als ein Vorwand, um das Bevorstehende erträglich zu machen. Der Staat hatte die Zerstörung der Kirche befohlen. Aber noch schlimmer, sogar viel schlimmer war, dass die Orthodoxe Kirche dem Dekret zugestimmt hatte. Beide Parteien, die sich dieses Vergehens schuldig machten, schoben vor, dass es sich um eine rein pragmatische und nicht etwa um eine ideologische Entscheidung handle. Sie hatten eine ganze Liste von Gründen erstellt. Da waren zunächst einmal die durch die deutsche Luftwaffe verursachten Schäden. Dann bedurfte das Kircheninnere einer aufwendigen Restaurierung, für die indes kein Geld da war. Und schließlich wurde
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