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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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Ikonostase. Er kam zu ihr. Doch zu ihrer Überraschung betete er nicht etwa, sondern nahm stattdessen ihre Hand.

    * * *

    Die zehn Minuten waren vergangen, und sie gingen wieder zur Tür. Lasar schob den Balken weg. Die Noten befanden sich in einer Tasche, die Anisja sich über die Schulter geworfen hatte. Sie hatten sich schon verabschiedet. Draußen blieb sie stehen, wandte sich noch einmal um und sah schweigend zu, wie Lasar die Tür hinter ihr schloss. Sie hörte, wie der Balken wieder vorgelegt wurde. Während sie in Richtung der Straße ging, suchte sie nach Gesichtern in den Fenstern und irgendwelchen Bewegungen im Schatten. Eine Hand umfasste ihr Armgelenk. Sie wirbelte herum. »Maxim?«
    Was machte er hier? Wo waren die Noten, die er bei sich gehabt hatte? Von irgendwo hinter der Kirche rief eine barsche, ungeduldige Stimme: »Leo?«

    Anisja sah einen Mann in dunkler Uniform - ein MGB-Agent. Weitere Männer folgten ihm, zusammengerottet wie Kakerlaken. All ihre Fragen schmolzen dahin, sie konzentrierte sich nur noch auf den Namen, den der Mann gerufen hatte: Leo. Mit einem einzigen Wort löste sich das ganze Lügengespinst auf. Deshalb also hatte er keine Freunde oder Verwandten in der Stadt und war in seinen Stunden mit Lasar so schweigsam gewesen. Deshalb kannte er sich in der Heiligen Schrift und Philosophie nicht aus. Deshalb hatte er auch die Kirche als Erster verlassen wollen - nicht etwa, um sie zu beschützen, sondern um ihre Beschatter zu alarmieren, die Mannschaft zusammenzutrommeln und sich für ihre Verhaftung bereitzuhalten. Er war ein Tschekist, ein Beamter der Geheimpolizei. Er hatte sie und ihren Mann getäuscht, hatte sich in ihrer beider Leben geschlichen, um so viele Informationen wie möglich zu bekommen, nicht nur von ihnen, sondern auch von den Leuten, die mit ihnen sympathisierten.
    Er hatte einen Schlag gegen die restlichen Widerstandsnester innerhalb der Kirche vorbereitet. War der Versuch, sie zu verführen, auch im Auftrag seiner Vorgesetzten geschehen? Hatten die sie als schwach und leichtgläubig eingeschätzt und diesem gut aussehenden Beamten befohlen, in die Rolle des Maxim zu schlüpfen, um sie zu manipulieren?
    Maxim sprach leise und vertraulich, so als habe sich nichts zwischen ihnen geändert. »Anisja, ich gebe dir noch eine Chance. Komm mit mir. Ich habe Vorbereitungen getroffen. An dir ist keiner interessiert. Sie wollen Lasar.«
    Der Tonfall in seiner Stimme, so sanft und besorgt, widerte sie an. Als er ihr vorgeschlagen hatte, mit ihm wegzugehen, war das gar keine naive Träumerei gewesen, keine romantische Verliebtheit. Es war die kühl kalkulierte Taktik eines Agenten.
    Er fuhr fort: »Ich gebe dir denselben Rat, den ihr mir gegeben habt: Denunziere Lasar. Ich kann für dich lügen. Ich kann dich beschützen. Er ist es, den sie wollen. Mit deiner Loyalität erreichst du gar nichts. Bitte!«

    Leo wurde die Zeit knapp. Sie musste doch begreifen, dass er ihre einzige Chance war zu überleben, was auch immer sie von ihm hielt. Es würde ihr nichts einbringen, an ihren Prinzipien festzuhalten. Sein Vorgesetzter Nikolai Borissow kam auf sie zu. Er war vierzig Jahre alt und hatte den Körperbau eines in die Jahre gekommenen Gewichthebers, immer noch stark, aber von zu viel Alkohol aufgeschwemmt. »Kooperiert sie?«
    Leo streckte die Hand aus, seine Augen flehten sie an, ihm die Tasche zu geben. »Bitte!«
    Statt einer Antwort schrie sie, so laut sie konnte: »Lasar!«
    Nikolai trat vor und schlug sie mit dem Handrücken. Seinen Männern rief er zu: »Los!«
    Mit Äxten machten sie sich über die Kirchentür her.
    Leo sah den Hass in Anisjas Blick. Nikolai entriss ihr die Tasche. »Er hat nur versucht, dich zu retten, du undankbares Miststück.«
    Sie lehnte sich vor und flüsterte Leo ins Ohr: »Hast du ernsthaft geglaubt, dass ich mich in dich verlieben könnte?« Beamte packten sie an den Armen und rissen sie zurück.
    Sie grinste ihn an, ein teuflisches Grinsen. »Niemand wird dich jemals lieben. Niemand.«
    Leo wandte sich von ihr ab und hoffte, dass man sie nur schnell fortschaffte.
    Tröstend legte ihm Nikolai eine Hand auf die Schulter. »Es wäre ohnehin schwierig genug geworden, plausibel zu machen, dass sie keine Verräterin war. Schwierig für dich, meine ich. So ist es besser, besser für dich. Es gibt auch noch andere Frauen, Leo. Es gibt immer andere.«
    Leo hatte seine erste Verhaftung durchgeführt.
    Anisja hatte unrecht. Denn es gab ja schon jemanden,
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