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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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Damals war er ein Mann gewesen, den man fürchten musste. Keiner hatte Witze über ihn gerissen. Das hätte keiner gewagt. Seine angegriffene Gesundheit hatte ihn dazu gezwungen, den Posten aufzugeben. Doch obwohl man ihn fürstlich entlohnt hatte und es ihm an nichts fehlte, die Untätigkeit war nichts für ihn. Wenn er ohne tägliche Aufgabe einfach nur im Bett liegen blieb, machten sich seine Gedanken selbstständig. Sie wanderten zurück in die Vergangenheit und erinnerten ihn an Gesichter wie das, das jetzt in diesem Buch klebte. Deshalb musste er sich beschäftigen und unter Leute kommen. Er brauchte eine Arbeit, damit er sich nicht in seinen Erinnerungen verlor.
    Suren klappte das Buch zu und schob es sich in die Jackentasche. Warum passierte das ausgerechnet heute? Das konnte doch kein bloßer Zufall sein. Denn obwohl er es nicht fertigbrachte, ein einigermaßen anständiges Buch oder Magazin abzuliefern, hatte man ihn unerwartet gebeten, ein wichtiges Staatsdokument zu drucken. Um was es sich dabei handelte, hatte man ihm nicht eröffnet. Doch das Prestige dieses Auftrags bedeutete, dass man ihm hochwertige Materialien zur Verfügung stellen würde, gutes Papier und gute Druckerfarbe. Endlich hatte er Gelegenheit, etwas herzustellen, auf das er stolz sein konnte. Heute Abend sollte das Dokument vorbeigebracht werden. Doch irgendjemand, der etwas gegen ihn hatte, wollte offenbar verhindern, dass sein Schicksal sich wendete.
    Suren verließ die Druckhalle und eilte in sein Büro, wo er sorgfältig sein dünnes graues Haar scheitelte. Heute trug er seinen besten Anzug - er besaß nur zwei, einen für den täglichen Gebrauch und einen für besondere Anlässe. Das hier war ein besonderer Anlass. Heute hatte man ihm nicht aus dem Bett helfen müssen, er war vor seiner Frau wach gewesen und hatte beim Rasieren vor sich hingesummt. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er ordentlich gefrühstückt. Früh war er in der Druckerei angekommen, hatte als Erstes die Flasche aus der Schublade geholt und den Wodka ins Spülbecken gekippt. Dann hatte er den ganzen Tag über saubergemacht, den Boden gescheuert und alles abgestaubt, hatte die Ölflecken von den Linotype-Maschinen gewischt. Seine Söhne, die beide an der Universität studierten, hatten ihn besucht und über die Verwandlung gestaunt. Suren hatte sie daran erinnert, dass es eine Frage des Prinzips war, seinen Arbeitsplatz makellos sauber zu halten. Der Arbeitsplatz war es schließlich, der einem Menschen Identität und Selbstwertgefühl verlieh. Zum Abschied hatten sie ihn geküsst und ihm bei seinem neuen Auftrag Glück gewünscht. Nach all den Jahren der Geheimniskrämerei und den letzten des Misserfolgs waren sie endlich einmal stolz auf ihn.
    Er schaute auf die Uhr. Es war sieben Uhr abends. Sie konnten jeden Augenblick da sein. Er musste diesen Fremden und das Foto einfach vergessen, das war doch nicht wichtig. Er durfte sich davon nicht ablenken lassen. Plötzlich wünschte er sich, er hätte den Wodka nicht weggegossen. Ein Schlückchen hätte ihn jetzt beruhigt. Aber wahrscheinlich hätte man das gerochen. Lieber keinen heben, lieber nervös sein, das zeigte, dass man die Arbeit ernst nahm. Suren griff nach der Flasche Kwass, einem alkoholfreien Brottrunk. Der musste reichen.
    In der ganzen Aufregung und weil der Alkoholentzug ihn zittrig gemacht hatte, stieß er gegen einen Druckstock mit stählernen Matrizen für die Buchstaben. Der Druckstock fiel vom Schreibtisch, und alles purzelte heraus, die Buchstaben lagen über den gesamten Fußboden verstreut.

    Klong, klong!

    Suren erstarrte. Urplötzlich war er nicht mehr in seinem Büro, sondern stand in einem schmalen Backsteinflur, von dem zu beiden Seiten Eisentüren abgingen. Er kannte den Ort genau: Das Orjoler Gefängnis, wo er beim Ausbruch des Großen Vaterländischen Krieges Wärter gewesen war. Weil sie gezwungen gewesen waren, sich vor der rasch vorrückenden deutschen Armee zurückzuziehen, hatte man ihm und den anderen Wärtern befohlen, sämtliche Häftlinge zu liquidieren, um bloß keine Sympathisanten als mögliche Rekruten für die Nazi-Invasoren zurückzulassen. Da bereits Stukas ihre Tieffliegerangriffe flogen und die Gebäude in Schussweite der Panzer lagen, war es logistisch gesehen eine ziemlich knifflige Angelegenheit, wie man in ein paar Minuten zwanzig Zellen voll mit Hunderten politischer Gefangener eliminieren sollte. Für Kugeln oder Schlingen hatten sie keine Zeit mehr. Es war seine
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