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Die Rückkehr des Poeten

Die Rückkehr des Poeten

Titel: Die Rückkehr des Poeten
Autoren: Michael Connelly
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    S
    ie befand sich in völliger Dunkelheit, trieb auf einem schwarzen Meer, über sich einen sternenlosen Himmel. Sie konnte nichts hören und nichts sehen. Es war ein vollkommener schwarzer Moment, doch dann schlug Rachel Walling die Augen auf.
    Sie blickte an die Decke. Sie lauschte dem Wind im Freien und hörte die Azaleenzweige über das Fenster scharren. Sie fragte sich, ob es das Kratzen auf dem Glas oder ein anderes Geräusch aus dem Haus gewesen war, das sie geweckt hatte. Dann läutete ihr Handy. Sie erschrak nicht. Ruhig streckte sie die Hand nach dem Nachttisch aus. Sie hielt das Telefon an ihr Ohr und war hellwach, als sie sich meldete. Ihrer Stimme war nicht anzuhören, dass sie geschlafen hatte.
    »Agent Walling«, sagte sie.
    »Rachel? Hier Cherie Dei.«
    Rachel war sofort klar, dass das kein Reservat-Anruf wäre. Cherie Dei bedeutete Quantico. Das letzte Mal lag vier Jahre zurück. Rachel hatte gewartet.
    »Wo sind Sie gerade, Rachel?«
    »Zu Hause. Wo sollte ich sonst sein?«
    »Ich weiß, dass Sie inzwischen für ein großes Gebiet zuständig sind. Ich dachte, vielleicht sind Sie …«
    »Ich bin in Rapid City, Cherie. Was gibt’s?«
    Sie antwortete erst nach einem längeren Schweigen.
    »Er ist wieder aufgetaucht. Er ist zurück.«
    Rachel spürte, wie eine unsichtbare Faust gegen ihre Brust schlug und dann dort verharrte. Ihr Verstand beschwor Erinnerungen und Bilder herauf. Schlechte. Sie schloss die Augen. Cherie Dei brauchte keinen Namen zu nennen. Rachel wusste, es war Backus. Der Poet war wieder aufgetaucht. Was sie sich schon die ganze Zeit gedacht hatten. Wie eine virulente Infektion, die sich, von außen nicht erkennbar, jahrelang im Körper ausbreitet und dann zur Erinnerung an ihre Hässlichkeit durch die Haut bricht.
    »Erzählen Sie schon.«
    »Vor drei Tagen haben wir in Quantico etwas bekommen. Ein Postpäckchen. Es enthielt …«
    »Vor drei Tagen? Sie haben da drei Tage draufgesessen?«
    »Gesessen haben wir auf gar nichts. Wir haben uns damit Zeit gelassen. Es war an Sie adressiert. An Behavioral Sciences. Sie haben es uns von der Poststelle runtergebracht, und wir haben es geröntgt und dann geöffnet. Vorsichtig.«
    »Was war drin?«
    »Ein GPS-Gerät.«
    Ein Ortungsgerät. Längen- und Breitengrade. Rachel hatte im vergangenen Jahr bei Ermittlungen mit einem solchen Teil zu tun gehabt. Eine Entführung draußen in den Badlands, wo eine vermisste Camperin ihre Spur mit einem tragbaren GPS markiert hatte. Sie fanden das Gerät in ihrem Rucksack und verfolgten ihren Weg zu einem Campingplatz zurück, auf dem sie einem Mann begegnet war, der ihr dann von dort gefolgt war. Sie kamen zwar zu spät, um sie noch retten zu können, aber ohne das GPS hätten sie die Stelle überhaupt nicht gefunden.
    »Was war drauf?«
    Rachel setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Sie führte ihre freie Hand an ihren Bauch und schloss sie wie eine verwelkte Blume. Sie wartete, und bald fuhr Cherie Dei fort. Rachel erinnerte sich, wie grün Cherie einmal gewesen war; sie war ihr im Zug des FBI-Tutorenprogramms zugeteilt worden und bei den Einsätzen lediglich zu Lern- und Beobachtungszwecken dabei gewesen. Inzwischen waren zehn Jahre vergangen, und die Fälle, die ganzen Fälle, hatten tiefe Furchen in ihre Stimme gegraben. Cherie Dei war nicht mehr grün und brauchte keinen Tutor.
    »Es war ein einziger Wegpunkt drauf gespeichert. In der Mojave-Wüste. Gleich hinter der kalifornischen Grenze in Nevada. Wir sind gestern hingeflogen und zu der Stelle gefahren. Wir haben Wärmebildtechnik und Gassonden eingesetzt. Gestern Abend haben wir die erste Leiche gefunden, Rachel.«
    »Wer ist es?«
    »Das wissen wir noch nicht. Sie ist alt. Lag schon lange dort. Wir sind noch ganz am Anfang. Die Ausgrabungsarbeiten gehen langsam voran.«
    »Sie sagten, die erste Leiche. Wie viel sind noch dort?«
    »Als ich gestern von der Fundstelle wegfuhr, waren es vier. Wir glauben, es sind noch mehr.«
    »Todesursache?«
    »Dafür ist es noch zu früh.«
    Rachel schwieg und dachte nach. Die ersten Fragen, die durch ihre Filter liefen, waren: Warum dort und warum jetzt?
    »Rachel, ich rufe nicht bloß an, um Ihnen Bescheid zu sagen. Die Sache ist die: Der Poet ist wieder aktiv, und wir möchten, dass Sie herkommen.«
    Rachel nickte. Das verstand sich von selbst.
    »Cherie?«
    »Ja?«
    »Warum glauben Sie, dass er es war, der das Päckchen geschickt hat?«
    »Das glauben wir nicht. Das wissen wir. Vor
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