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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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Idee gewesen, Handgranaten zu benutzen, zwei für jede Zelle. Er war zum Ende des Flurs gegangen, hatte den Sicherungsstift herausgezogen und sie hineingeschleudert. Klong, klong! - so hatte es sich angehört, als die Handgranaten über den Betonboden schepperten. Dann hatte er die Gitterfenster zugeknallt, damit man sie nicht wieder herauswerfen konnte, und war durch den Flur zurückgelaufen, um der Explosion zu entgehen. Dabei hatte er sich vorgestellt, wie die Männer an den Handgranaten herumnestelten und sie ihnen aus den schmuddeligen Fingern glitten bei dem Versuch, sie durch die verschlossenen Gitterfenster zu werfen.
    Suren presste seine Hände fest gegen die Ohren, so als ob er damit die Erinnerung verbannen könnte. Aber das Lärmen hielt an, immer lauter, Handgranaten auf dem Betonboden, eine Zelle nach der anderen.

    Klong, klong, klong, klong!

    »Aufhören!«, schrie er. Als er die Hände von den Ohren nahm, merkte er, dass jemand an der Tür klopfte.

13. März

    Die Kehle des Opfers war durch eine Reihe tiefer, dilettantischer Schnitte zerfetzt worden. Oberhalb und unterhalb dessen, was vom Hals des Mannes noch übrig war, gab es keine Verletzungen, was gleichermaßen nach Raserei und Überlegung aussah. Gemessen an der Grausamkeit des Angriffs war rund um die Einschnitte nur wenig Blut ausgetreten. Offenbar hatte der Mörder das Opfer niedergeschlagen, es zu Boden gedrückt und ihm selbst dann noch Schnitt auf Schnitt zugefügt, als Suren Moskwin, der fünfundfünfzigjährige Leiter einer kleinen Druckerei für Lehrbücher, schon längst tot gewesen war.
    Seine Leiche war am frühen Morgen gefunden worden, als seine Söhne Wsewolod und Awksenti besorgt in die Firma gegangen waren, weil ihr Vater nicht nach Hause gekommen war. Verstört hatten sie die Miliz verständigt. Die hatte das Büro vollkommen durchwühlt vorgefunden, die Schreibtischschubladen waren herausgezogen, der Boden mit Papieren übersät, die Aktenschränke waren aufgebrochen worden. Daraus hatte man geschlossen, dass es sich um einen Einbruch handelte, der schiefgegangen war. Erst am späten Nachmittag, etwa sieben Stunden nach dem Fund der Leiche, hatte die Miliz schließlich das Morddezernat verständigt, das vom ehemaligen MGB-Agenten Leo Stepanowitsch Demidow geleitet wurde.
    An derlei Verzögerungen war Leo gewöhnt. Vor drei Jahren hatte er Kapital aus der Tatsache geschlagen, dass ihm die Aufklärung einer Mordserie an über vierundvierzig Kindern gelungen war, und das Morddezernat gegründet. Von Anfang an war das Verhältnis zur regulären Miliz belastet gewesen und Kooperation nicht gerade an der Tagesordnung. Viele Beamte der Miliz und KGB-Offiziere fassten schon die schiere Existenz einer solchen Behörde als Kritik an der eigenen Arbeit und am Staat auf. Und eigentlich hatten sie damit sogar recht. Denn Leos Motive bei der Gründung dieses Dezernats waren eine unmittelbare Reaktion auf seine Arbeit als Agent gewesen. In seiner früheren Laufbahn hatte er viele Zivilisten verhaftet, und das nur aufgrund von Namenslisten, die seine Vorgesetzten ihm ausgehändigt hatten. Das Morddezernat dagegen war ausschließlich an bewiesenen Sachverhalten interessiert, nicht an politisch motivierten. Leo hatte in jedem einzelnen Fall die Ermittlungsergebnisse seinen Vorgesetzten zu präsentieren. Was die mit der Wahrheit dann anstellten, war deren Angelegenheit. Insgeheim hoffte Leo, dass sich das Konto seiner Verhaftungen eines Tages ausgleichen und mehr Schuldige als Unschuldige dabei herauskommen würden. Selbst bei vorsichtiger Schätzung hatte er da noch einen weiten Weg vor sich.
    Die Freiheiten, die dem Morddezernat gewährt wurden, beruhten darauf, dass seine Arbeit der strengsten Geheimhaltungsstufe unterworfen war. Er und seine Leute berichteten direkt an die höchsten Stellen im Innenministerium und arbeiteten als verdeckte Unterabteilung des Hauptbüros für Verbrechensbekämpfung. Die normale Bevölkerung sollte immer noch an die Weiterentwicklung der Gesellschaft glauben. Sinkende Verbrechensraten waren ein Dogma dieses Glaubens, und Fakten, die auf das Gegenteil hindeuteten, wurden aus dem nationalen Bewusstsein getilgt. Kein Bürger konnte sich an das Morddezernat wenden, weil gar keiner wusste, dass es überhaupt existierte. Aus diesem Grund konnte Leo auch nicht im Radio zur Mithilfe aufrufen oder Zeugen bitten, sich zu melden. So etwas wäre gleichbedeutend gewesen mit der öffentlichen Bekanntmachung, dass es
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