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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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sie zu. Frajera hob die Kamera und stellte den Fokus auf das Flugzeug ein. Die MIG neigte sich in den Angriffsanflug. Um Frajera herum begannen die Dachpfannen zu zittern. Sie wartete, bis der Düsenjäger fast genau über ihr war. Im nächsten Moment flog das ganze Dach in die Luft, die Splitter der umhersirrenden Dachziegel verbrannten ihr Arme und Gesicht. Doch Frajera war sich sicher, dass dies ihr letztes, ihr bestes Foto überhaupt werden würde.

Zwei Wochen danach

    Sowjetunion
    Moskau

    19. November

    Es war sein erster Arbeitstag. Leos Hände waren voller Mehl und sein Gesicht glühend heiß von den Öfen. Als er gerade eine Lage frisch gebackener Brotlaibe herausholte, hörte er Filipp rufen: »Leo, du hast Besuch.«
    Ein tadellos gekleideter Frol Panin betrat die Bäckerei und blickte sich mit wohlwollender Geringschätzung um. »Wir erfüllen auch Sonderwünsche«, sagte Leo. »Roggenmehl mit Koriandersamen, gesüßt mit Honig anstatt Zucker, koscher, fettfrei ...«
    Er holte eines der noch warmen Brote, brach es und hielt es Panin hin. Der nahm es an und biss hinein. Diesem Mann schien es weder peinlich zu sein, noch zeigte er nur einen Hauch Reue, dass er Leo betrogen und mit seinen Feinden gemeinsame Sache gemacht hatte. »Lecker!«
    Panin legte das Brot hin, klopfte sich das Mehl von den Fingern und sah sich prüfend um, ob Filipp auch nicht mithörte. »Leo, niemand will hier zum Stalinismus zurückkehren. Massenverhaftungen gehören der Vergangenheit an. Die Lager werden geschlossen und die Folterzellen abgerissen. All diese Veränderungen spielen sich gerade ab, und sie werden auch weitergehen. Aber sie müssen heimlich weitergehen, ohne dass wir irgendwelche Verfehlungen zugeben. Wir werden uns weiterentwickeln ... aber wir schauen dabei nicht zurück auf die Vergangenheit.«
    Trotz allem, was geschehen war, konnte Leo nicht umhin, Panin zu bewundern. Dem wäre es ein Leichtes gewesen, dafür zu sorgen, dass Leo nie mehr aus Budapest herausgekommen wäre. Doch Panin traf Entscheidungen nur aus praktischen Erwägungen, nicht etwa aus böser Absicht oder gar Niedertracht. Jetzt, wo der Aufstand niedergeschlagen und Frajera tot war, spielte Leo keine Rolle mehr, deshalb konnte man ihn ebenso gut leben lassen.
    »Was wollen Sie noch von mir, Frol Panin? Ihr habt doch gewonnen.«
    »Ich würde behaupten wollen, dass wir alle gewonnen haben. «
    »Nein, ich habe schon vor langer Zeit verloren. Ich versuche nur, nicht noch einmal zu verlieren.«
    »Was immer Sie von mir halten mögen, Leo, meine Entscheidungen galten immer nur dem ...«
    Leo unterbrach ihn. »Dem Wohl des Ganzen?«
    Panin nickte und fügte hinzu: »Ich will, dass Sie für mich arbeiten. Wir brauchen Männer wie Sie.«
    »Verstehe. Männer wie mich.« Leo ließ den Satz wirken, dann fuhr er fort: »Heißt das, Sie wollen das Morddezernat wiedereröffnen?«
    »Nein, so weit sind wir noch nicht.«
    »Wenn Sie so weit sind, können Sie mich ja informieren.«
    »Und derweil wollen Sie Roggenbrot mit Koriandersamen backen?« Panin lächelte. »Na schön. Ich hoffe, eines Tages werde ich etwas für Sie tun können.«
    Es war eine Art Entschuldigung. Eine versteckte Entschuldigung. Leo nahm sie an. »Es gibt in der Tat etwas, was Sie jetzt schon für mich tun können.«

    Am selben Tag

    Am Empfang des Moskauer Konservatoriums fragte Leo nach Pjotr Orlow, einem der vielversprechendsten jungen Geiger des Landes. Er wurde in ein Übungszimmer geführt. Orlow, erst Ende zwanzig, öffnete die doppelte, schalldichte Tür. »Ja bitte?«, fragte er brüsk.
    »Mein Name ist Leo Demidow. Frol Panin hat mir gesagt, Sie könnten mir vielleicht helfen.«
    Als er den Namen Panin hörte, wurde der Geiger sogleich zugänglicher.
    Das Übungszimmer war klein. Es gab nur einen Notenständer und ein Klavier. Orlow legte die Geige an den Hals. Der Bogen und etwas Kolophonium lagen auf dem Notenständer.
    »Und was kann ich für Sie tun?«
    Leo öffnete seine Mappe und nahm ein einzelnes Notenblatt heraus. In der Mitte war ein Loch hineingesengt, das vor sieben Jahren in Lasars Kirche von einer Kerze verursacht worden war. Doch dann hatte Leo es sich anders überlegt. Er hatte das Blatt auf den Steinboden gelegt und die Flamme ausgetreten. Diese halb verkohlten Noten waren alles, was von den Kompositionen des verhafteten Musikers übrig geblieben war. Man hatte sie in Lasars Hinterlassenschaft gefunden und als Beweis für seine konterrevolutionären Kontakte zu
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