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Die Päpstin

Titel: Die Päpstin
Autoren: Aufbau
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    |5| PROLOG
    Es war am siebenundzwanzigsten Tag des Wintarmanoth im Jahre unseres Herrn 814, im härtesten Winter seit Menschengedenken.
     Hrotrud, die Hebamme des Dorfes Ingelheim, kämpfte sich durch den Schnee zum Haus des Dorfpriesters. Eine Windböe fegte zwischen
     den Bäumen hindurch, krallte ihre eisigen Finger in Hrotruds Körper und drang durch die Löcher und Flicken ihrer dünnen Wollkleidung.
     Der Waldweg war von hohen Schneewehen bedeckt; bei jedem Schritt sank Hrotrud fast bis zu den Knien ein. Eine Schneekruste
     hatte sich über ihren Brauen und Lidern gebildet; immer wieder wischte sie sich übers Gesicht, um den Weg sehen zu können.
     Die Hände und Füße schmerzten ihr vor Kälte, obwohl sie mehrere Stofflappen darumgewickelt hatte.
    Ein Stück voraus erschien ein verschwommener schwarzer Fleck auf dem Pfad. Es war eine tote Krähe. Selbst diese zähen Aasfresser
     starben in diesem bitterkalten Winter. Sie verhungerten, weil die Kadaver dermaßen hart gefroren waren, daß sie mit den Schnäbeln
     das Fleisch nicht lospicken konnten. Hrotrud erschauderte und schritt schneller aus.
    Bei Gudrun, der Frau des Dorfpriesters, hatten die Wehen eingesetzt, einen Monat früher als erwartet.
Da hat sich das Kleine ja eine schöne Zeit ausgesucht
, ging es Hrotrud voller Bitterkeit durch den Kopf.
Allein letzten Monat habe ich fünf Kinder zur Welt gebracht, und keins von ihnen hat länger als eine Woche gelebt.
    Ein Schwall windgepeitschten Schnees blendete Hrotrud, und für einen Moment verlor sie den spärlich markierten Weg aus den
     Augen. Entsetzen stieg in ihr auf. Schon mehr als ein Dorfbewohner war ums Leben gekommen, weil er bei einem solchen Wetter
     die Orientierung verloren hatte und bis zur völligen Erschöpfung im Kreis umhergeirrt war, manchmal nur ein paar Schritt von
     seinem Haus entfernt. Hrotrud zwang sich, |6| stehenzubleiben und zu warten, während der Schnee um sie herum toste und wirbelte und sie mit einer vollkommen konturlosen
     Landschaft aus reinem Weiß umgab. Als der Sturmwind endlich nachließ, konnte Hrotrud nur noch mit Mühe die Umrisse des Weges
     erkennen. Sie setzte sich wieder in Bewegung. Der Schmerz in den Händen und Füßen war verschwunden; sie waren jetzt völlig
     taub vor Kälte. Hrotrud wußte, was das bedeuten mochte; aber sie konnte es sich nicht leisten, groß darüber nachzudenken.
     Es war wichtig, die Ruhe zu bewahren.
    Ich darf nicht an die Kälte denken.
    Sie rief sich das Bild des Anwesens ins Gedächtnis, auf dem sie aufgewachsen war: eine
casa
, ein herrschaftliches Haus mit gut sechs Hektar fruchtbarem Ackerland. Das Haus war gemütlich und warm gewesen, mit festen
     Wänden aus dicken Balken – viel schöner als die Häuser der Nachbarn, deren Wände aus schlichten, mit Lehm verfugten Holzlatten
     bestanden. Im Herd, der sich in der Mitte des Hauses befand, hatte ein großes Feuer gelodert, und der Rauch, der kräuselnd
     aufgestiegen war, zog durch eine Öffnung in der Decke zum Himmel empor. Hrotruds Vater hatte ein kostbares Wams aus Otternfell
     über seinem
bliaud
aus feinem Leinen getragen, und ihre Mutter besaß Bänder aus Seide für ihr langes schwarzes Haar. Hrotrud selbst hatten zwei
     Überkleider mit weiten Ärmeln gehört, und ein warmer Mantel aus feinster Wolle. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie kuschelig
     und weich der teure Stoff sich auf ihrer Haut angefühlt hatte.
    Und dann hatte alles ein so schnelles Ende gefunden. Zwei Dürresommer und eine verheerende Frostperiode hatten die Ernten
     vernichtet. Überall verhungerten die Menschen; in Thüringen hatte es angeblich Fälle von Kannibalismus gegeben. Durch den
     umsichtigen Verkauf des Familienbesitzes hatte Hrotruds Vater die Familie eine Zeitlang vor dem Hungern bewahrt. Hrotrud hatte
     geweint, als der Vater ihr den wollenen Mantel fortnahm. Damals hatte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen können, als ihren
     Mantel abgeben zu müssen. Hrotrud lächelte trotz der Eiseskälte. Damals war sie acht Jahre alt gewesen und hatte die Schrecknisse
     und Grausamkeiten dieser Welt noch nicht gekannt.
    Erneut wühlte sie sich durch eine hohe Schneewehe und wehrte sich gegen ein zunehmendes Schwindelgefühl. Sie hatte seit mehreren
     Tagen nichts gegessen.
Aber
, sagte sie sich, |7|
wenn alles gutgeht, bekomme ich heute abend ein Festessen. Falls der Dorfpriester zufrieden mit mir ist, wird er mir sogar
     Speck als Bezahlung mit auf den Nachhauseweg
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