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Königsallee: Roman (German Edition)

Königsallee: Roman (German Edition)

Titel: Königsallee: Roman (German Edition)
Autoren: Hans Pleschinski
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Alarm
    Der Aufruhr im Breidenbacher Hof war groß.
    Das Grand Hotel befand sich im Ausnahmezustand.
    Krude Zeiten.
    Da mußte man durch.
    Zu allen üblichen Herausforderungen kam an diesem Vormittag hinzu, daß die Feuerwehr die hintere Zufahrtsstraße und damit die Lieferanteneingänge abgesperrt hatte. Eine Spaziergängerin, vielmehr ihr Hund, war auf einen Blindgänger gestoßen.
    Direktion und Personal durften froh sein, daß nicht der gesamte Gebäudekomplex geräumt werden mußte. Die vergangenen Evakuierungen aus demselben Grund hatten üble Erinnerungen hinterlassen. Vor zwei Jahren war nach dem nur leidlich kontrollierbaren Entweichen aus dem Hotel ins Sichere – vor allem die Gasleitungen im Keller stellten ein erhebliches Risiko dar – außer einer Menge Besteck auch eine Delfter Vase aus einem Vestibül verschwunden geblieben. Im Jahr zuvor war eine kanadische Geigerin oder Sopranistin, die vor der Rheinarmee gastieren sollte, nach der Aufforderung We would like you to leave the house in all calmness but immediately. There might be an explosion dermaßen angsterfüllt, ja, panisch – dennoch mit einigem Gepäck – die Treppen hinabgestürmt, daß sie schlimm gestürzt war. Direkt aus der Chirurgie im Domenikus-Krankenhaus hatte die Kanadierin ihre Heimreise angetreten.
    Todesfurcht angesichts einer womöglich detonierenden Luftmine konnte man einer Künstlerin aus dem ruhigen Ottawa natürlich nicht verübeln. Die Hotelleitung hatte alle Anweisungen befolgt und war mit einer kurzen Untersuchung des Unfalls davongekommen. Die nicht unerheblichen Regreßforderungen wegen der ausgefallenen Tournee vor Soldaten und einer vielleicht beendeten Bühnenkarriere hatte das recht neuartige Bundesland Nordrhein-Westfalen, selbst noch ein Hungerleider, wiewohl im Aufschwung, zu begleichen. Die Bereinigung von Kriegsschäden mit sämtlichen Begleiterscheinungen oblag – zumindest auf deutschem Boden – deutschen Behörden. Und die hatten durchgehend teils sogar in verheerendsten Zeiten funktioniert. Noch im Untergang waren Jahressteuerbescheide Männern des Volkssturms zugeleitet und mit dem Vermerk Gefallen an ausgebrannte oder verlassene Ämter in Aachen oder gen Stettin zurück expediert worden. Triumph des Willens, oder gespenstischer ging es nicht.
    Keine zehn Jahre war das her.
    In sicherer Distanz zum Hotel kreiste das Blaulicht der Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks. An der abgesperrten Trümmerbrache herrschte angespannte Konzentration. Nach einem Handzeichen aus dem Ruinengestrüpp räumte der Sprengmeister geborstene Ziegel über einem verschütteten Kellereingang vorsichtig beiseite.
    Es glich einem Wunder, daß in der Flußmetropole überhaupt noch eine Schindel auf den Dachstühlen, eine Hauswand senkrecht und eine Glasscherbe in den Fensterrahmen geblieben war. Ein vierteltausend Angriffe – anfangs nachts, später auch bei Sonnenschein – hatten die Stadt umgepflügt. Um die sechstausend Menschen, Einheimische, zu den Fabriken Herverschleppte aus dem Osten, waren auf den Straßen zerfetzt, unter Gemäuer begraben worden, in ausglühenden Schutzräumen erstickt und verschmort. Lodernd waren Lancaster-Bomber in den Rhein gestürzt. In den Cockpits der Feinde, der Bezwinger, der Befreier war noch unter Wasser ein Flammen und verzweifeltes Gestikulieren zu erkennen gewesen.
    Kein Wort konnte die Geschehnisse erfassen und zur Ruhe bringen.
    Das Ausmaß und die Tiefe der Wunde waren vielleicht noch längst nicht erkannt. Wie viele Jahre müßten vergehen? – Zerstörung, Schande waren nun das Erbe der Nation. Wann käme eine neue, bessere Vermischung ihrer Substanz? Daß man als Deutscher wieder zu dem würde, was man ehedem gewesen war: Bürger der Welt, tüchtiger Arbeiter, Faulenzer vor dem Herrn, Verkehrspolizist oder Verliebte ohne Schattenreich im Nacken.
    Gottlob gab es den Alltag. Auch wenn er die Nerven aufs äußerste strapazierte.
    Entsetzt nahm Oskar Siemer wahr, wie die Halle des ersten Hauses am Platze verwüstet wurde. Der Empfangschef des Breidenbacher Hofs spürte das Jucken in seiner rechten Wange und griff sich kurz an die Haut. Wie immer, wenn der gewünschte Tagesablauf aus dem Lot geriet, meldete sich der Granatsplitter, erhitzte sich leicht und geriet in Bewegung. Das dunkle Stück sowjetische Munition, das im Brandenburgischen, wenige Kilometer südlich von Berlin, in Siemers Gesicht gespritzt war, wanderte unmerklich. Der Streif unter der Haut, manchmal nur mit der Lupe
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