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Königsallee: Roman (German Edition)

Königsallee: Roman (German Edition)

Titel: Königsallee: Roman (German Edition)
Autoren: Hans Pleschinski
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den Wintergarten auf dem Dach und nachfolgende Brandbomben hatten der Pracht ein Ende bereitet. Bei der Renovierung waren farbiges Glas durch Putz und geborstener Bodenmarmor durch sandfarbene Steinfliesen ersetzt worden. Auf alten Fotos erkannte man noch die eichene Rezeption mit üppigem Schnitzwerk. Nun wölbte sich ein kühler Bogen aus gleichfalls poliertem Stein in die Halle vor. Auf Fotos, die zum Hausarchiv gehörten, harrten noch wahre Heerscharen von Bediensteten der Gästewünsche. Die Saaltöchter und Zimmermädchen trugen weiße Häubchen mit Spitzenbändern. Eine Schwadron von Hotelboys war der Größe nach wie die Orgelpfeifen aufgestellt und abgelichtet worden. Kecke Gesichter, strebsame, ein traurig dreinblickender Halbwüchsiger mit Zahnlücken. Wo befanden sie sich jetzt, die Burschen, die damals die Koffer von Industriellen, Reichstagsabgeordneten, die Hutschachteln Lilian Harveys und einmal Zarah Leanders geschleppt hatten? Gefallen, verstümmelt, im kommunistischen Ostdeutschland in Amt und Würden oder verheiratet mit eigenem Gasthof im Sauerland? – Die Uniformen des älteren männlichen Personals hatten sich nicht geändert: schwarze Hose mit weinroten Litzen, dazu passender Rock mit doppelter Goldknopfleiste, auf dem Kragenspiegel die Initialen des Breidenbacher Hofs. Schirmmützen für Portiers. Nach langem Arbeitstag hinterließen sie einen Druckkranz im Haar oder bei kahlerem Kopf ein rötliches Hautrund. Ein Schuß vom aufflackernden Häuserkampf im Bereich der Königsallee, britische oder SS-Munition, war über den Schlüsselkästen durch das Zifferblatt der Uhr gedrungen und hatte neben der römischen III ein sauberes Loch hinterlassen. Das Federwerk war unbeschädigt geblieben, und die Uhr hatte weitergetickt. Aus unklaren Gründen war sie nicht repariert oder entfernt worden. Ein Steckschuß im Uhrwerk verursachte gelegentlich ein gewisses Innehalten, barg eine Dramatik, erinnerte sehr eindringlich, so daß man den Zeitmesser womöglich sogar bewußt belassen hatte. Die Zeiger verdeckten pünktlich den Schaden.
    Andere Schüsse hier im Haus hatten vielleicht tödlich getroffen. Sterbende mit dem Kopf im Kamin, kräftige Männer, zusammengesunken, die Hände aufs Gedärm gepreßt, schreiend, winselnd im Deckenschutt. Wer den Einschuß im glänzenden Metall überhaupt wahrnahm, hielt ihn für ein Aufziehloch.
    Herr Friedemann, der Untersetzte, zog sich in den Hinterraum zurück, wo Büroarbeit zu erledigen war. Chefrezeptionist Siemer grüßte linker Hand zur Tabakboutique hinüber, wo Fräulein Gerda den Zigarrenanzünder säuberte. Im Frisiersalon daneben saßen bereits Kundinnen unter Trockenhauben. Ein Herr fuhr sich mit der Hand wohlgefällig übers rasierte Gesicht und zupfte einen Fussel vom Hutband.
    Oskar Siemer wurde Bilder der vergangenen Zeiten nicht los, wohl nie mehr. Wie sah sein Café in Tilsit aus? Ausgebrannt, zerlegt? Russen wohnten in Tilsit. Unfaßlich. Nicht die geringste Nachricht drang von dort durch. Tilsit war weg, das konnte nicht sein, aber es war weg. Unerreichbar, gewiß tief verwandelt. Die Bögen der gesprengten Luisenbrücke hingen laut Hörensagen in den Memelfluten. Das Schlußinferno, die Flucht, das Überranntwerden hatte er nicht miterlebt, er hatte ja im Süden Berlins gelegen. Wahrscheinlich hätte er versucht, den großen WMF-Kaffeeautomaten nach Westen zu retten. Welcher Irrsinn. Das teure Gerät wäre bald im Schnee liegengeblieben. Von seiner Frau hatte er nichts mehr gehört. Der vormals selbständige Konditormeister, der als Lohnempfänger ins Hotelfach geraten war, unterdrückte auch nach Jahren sein Schlucken nicht. Sie hatte wahrscheinlich keinen Treck mehr erreicht. Gerda hatte verrückterweise bis zum Schluß an eine gewisse Ritterlichkeit der Russen geglaubt: Russen, hatte sie gemeint, hätten schon öfter Ostpreußen besetzt und der Zivilbevölkerung kein Leid zugefügt. Im Gegenteil, hatte sie gewußt: Als die Russen jahrelang Königsberg besetzt gehalten hatten, unter dem Alten Fritz, war es in der Stadt bald besonders festlich zugegangen, Offiziere hatten zu Bällen eingeladen, und Königsberg war in einen Besatzungsrausch geraten. Wir müssen uns im Osten doch verstehen. Das werden wir wieder tun. Wie willentlich naiv. Sie hätte von Greueltaten der Deutschen und der Rache dafür einiges wissen und ahnen können. Wegen ihrer Verwurzelung im schönen Land, der Sommerhütte auf der Nehrung, hatte sie sich wahrscheinlich nur
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