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Der ueberforderte Mensch

Der ueberforderte Mensch

Titel: Der ueberforderte Mensch
Autoren: Patrick Kury
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Kapitel 10
Schluss
    Als ich in den vergangenen Jahren im Gespräch mit Freunden und Bekannten erwähnte, dass ich eine Geschichte des Stresses schreibe, löste ich in aller Regel zwei unterschiedliche Reaktionsweisen aus. Die erste zeichnete sich durch persönliche Betroffenheit aus. Auf ein zustimmendes Kopfnicken erklärten sich die Gesprächspartnerinnen und -partner sogleich bereit, als Opfer von Stress über die eigenen Erfahrungen Auskunft zu geben. Die zweite Reaktion lässt sich als kritisches Interesse bezeichnen. Auf die Bemerkung: »Interessant, mal etwas Neues«, folgte nach einer kurzen Pause des Nachdenkens die Frage, ob Stress überhaupt eine Geschichte habe, die man erzählen könne. Stress habe es doch schon immer gegeben und er lasse sich nicht nur beim Menschen, sondern auch in der Tier- und Pflanzenwelt beobachten.
    Die beiden Reaktionsweisen belegen zum einen die hohe Aktualität des Themas, zum anderen das mangelnde historische Bewusstsein bezüglich des Stresses. Das vorliegende Buch setzt hier an. Es zeigt, dass der Aufstieg von Stress zu einem den Alltag bestimmenden Thema nur in seinen zeitlichen Bezügen und im Wechselspiel mit innerwissenschaftlichen Dynamiken, sozioökonomischen Umbrüchen, technischen Innovationen, kulturellen Mustern und diskursiven Regeln zu verstehen ist. So ist die große Aufmerksamkeit, die Stress zuteil wird, oder, wenn man will, der enorme Erfolg von Stress das Produkt eines historischen Prozesses, der oftmals unvorhergesehene Wendungen genommen hat. Bei der ersten physiologischen Konzeptualisierung von Stress im Kontext des Allgemeinen Anpassungssyndroms durch den österreichisch-ungarisch-kanadischen Mediziner und Biochemiker Hans Selye im Jahr 1946 waren die in dieser Studie dargelegten Entwicklungslinien denn auch alles andere als vorhersehbar. Beispielsweise war Selyes physiologisch-endokrinologisches Stresskonzept innerhalb von Medizin und Naturwissenschaft zunächst heftig umstritten. Erst im Wechselspiel zwischen wissenschaftlichen Entwicklungen (erwähnt sei etwa die Umdeutung von Selyes physiologischem Stresskonzept durch psychosoziale Ansätze auf derNew Yorker Tagung Life Stress and Bodily Disease im Jahr 1949), dem kulturellen Wandel (zum Beispiel die neue Deutung des Mensch-Umwelt-Verhältnisses in den 1970er Jahren) und sozioökonomischen Transformationen (wie die technische und soziale Beschleunigung sowie die Flexibilisierung der Arbeitswelt) wurde Stress so erfolgreich.
    Bei der Untersuchung der Genese und Entwicklung von Stress wurde deutlich, dass seine Geschichte ebenso eine Geschichte von transnationalen Wissenstransfers wie von nationalen Besonderheiten darstellt. Stress bildete sich vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs im nordamerikanischen Raum heraus. Hans Selye forschte seit Mitte der 1930er Jahre in Kanada an physiologisch-hormonellen Abläufen und schuf in der Beschreibung des Allgemeinen Anpassungssyndroms eine wichtige Voraussetzung für die Stressforschung. Unabhängig von Selye waren es seit dem Zweiten Weltkrieg USamerikanische und britische Militärmediziner und -psychiater, die den Begriff Stress verwendeten, um verschiedene physische und psychische Belastungen zu benennen, denen Piloten und Fliegersoldaten während des Kriegs ausgesetzt waren. 1946 brachte Hans Selye die Abläufe des Allgemeinen Anpassungssyndroms mit dem in der Militärmedizin verwendeten Terminus Stress in Verbindung. Sowohl Selye als auch die angelsächsischen Militärmediziner und -psychiater hatten sich auf die Arbeiten des amerikanischen Physiologen Walter B. Cannon gestützt, der den Begriff Stress bereits seit 1914 in medizinischen Zusammenhängen gebraucht hatte, ohne daraus ein Konzept zu entwickeln.
    Die Rezeption von Selyes physiologischem Stresskonzept führte seit dem Ende der 1940er Jahre zu intensiven Debatten in der nordamerikanischen Medizin. Schließlich waren es die dortige Psychosomatik und Psychologie sowie die schwedische Sozialmedizin, welche die Stressforschung nach 1950 nachhaltig prägten. Um gesundheitliche Störungen zu verstehen, stellten diese Disziplinen vermehrt einen Zusammenhang zwischen psychisch, sozial und kulturell bedingtem Stress und Krankheitsursachen her.
    Der Fokus auf den deutschsprachigen Raum und insbesondere auf Deutschland ergab, dass dort eine Stressrezeption in der Nachkriegszeit weitgehend fehlte. Dieses Fehlen lässt sich zunächst durch den Verlust von Expertinnen und Experten im Fachbereich der
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