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Der ueberforderte Mensch

Der ueberforderte Mensch

Titel: Der ueberforderte Mensch
Autoren: Patrick Kury
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Presse, die sich dem Stress zuwandten. Unter skandinavischem und angelsächsischem Einfluss etablierte sich im deutschsprachigen Raum ein Stressverständnis, das psycho- und soziosomatische Ursachen in den Mittelpunkt rückte. Die Durchsetzung des psychosozialen Stresskonzepts muss vor dem Hintergrund des sozioökonomischen Wandels und gesellschaftspolitischer Entwicklungen der 1970er Jahre gelesen werden. Ökonomische und ökologische Krisen, ein sich formierendes Umweltbewusstsein sowie eine neue sozialpolitische Agenda in Westdeutschland führten damals zu einem intensiven Nachdenken über Lebensqualität, Ökologie und gesunde Lebensführung. Gemeinsam stellten diese Entwicklungen ein Ringen um ein neues postindustrielles Mensch-Umwelt-Verhältnis dar. Die Etablierung des psychosozialen Stresskonzepts war zugleich Ausdruck und Faktor dieses Ringens.
    Das psychosoziale Stresskonzept schuf die Voraussetzung für den Erfolg von Stress als Belastungsdiskurs. Seit den 1990er Jahren schreiben Wissenschaft, Öffentlichkeit und Gesundheitspolitik dem psychosozialen Stress bei der Entstehung von Krankheiten eine zunehmend wichtige Rolle zu. Unter den sogenannten Stresserkrankungen wie Herzgefäßkrankheiten, Bluthochdruckund anderen nahm und nimmt die emotionale Erschöpfungskrankheit Burnout eine herausragende Stellung ein. Sie ist zuerst in den USA, später auch in Europa und im deutschsprachigen Raum zu einer äußerst populären Diagnose geworden. Die Zunahme von Stress und Stresserkrankungen wird sowohl von transnationalen Organisationen wie der WHO oder der Europäischen Kommission für Beschäftigung und Soziales als auch von Sozialmedizinern und Sozialwissenschaftlern auf den politischen, sozioökonomischen und technischen Wandel seit den 1970er Jahren zurückgeführt. Die politischen Umwälzungen nach dem Zusammenbruch kommunistischer Systeme und die Beschleunigung durch die Kommunikations- und Computertechnologie haben darüber hinaus Dynamiken entstehen lassen, die die Lebens- und Arbeitswelten sowie die Zeiterfahrungen sehr vieler Menschen veränderten.
    Das psychosoziale Stresskonzept bildete weiter die Voraussetzung für eine individualisierte Stressbewältigung. In den 1970er Jahren setzte eine Individualisierung von Stress ein, die durch die rasch anwachsende Ratgeberliteratur zur Stressbewältigung befördert wurde. Darin appellierten Autorinnen und Autoren an die Selbstverantwortung des Einzelnen. Für die Herausbildung eines vielfältigen Angebots individualisierter Stressbewältigungstechniken markierten die 1970er Jahre eine entscheidende Phase. Damals verschmolzen ältere Formen der Gesundheitskontrolle und -prophylaxe mit individualistisch ausgerichteten Formen der Selbstführung. In den deregulierten, flexiblen Arbeitswelten der Gegenwart findet sich der Einzelne in einer verstärkten Wettbewerbssituation wieder. Mittels permanenter Selbstoptimierung versucht er sich an Veränderungen anzupassen. So bildet Stress beziehungsweise der adäquate Umgang damit eine sich selbst perfektionierende Anpassungstechnologie: Das Reden über Stress stellt im Zeitalter von Beschleunigung und Flexibilisierung eine Möglichkeit dar, Unbehagen zu artikulieren und krank machende Belastungen zu kritisieren; zugleich hilft es dem Individuum, sich an Herausforderungen anzupassen.
    Im Verlauf der hier dargelegten Entwicklung habe ich zumindest drei aufeinander bezogene Deutungsebenen von Stress herausgearbeitet, die erstmals als solche benannt und in ihren historischen Bezügen analysiert wurden. So bildet Stress erstens, seit Ende der 1940er Jahre, ein wissenschaftliches Konzept, das die physiologisch-hormonellen Abläufe in Reaktion auf beliebige Störungen des Organismus beschreibt: Stress manifestiert sich gemäß Hans Selye im dreistufigen Allgemeinen Anpassungssyndrom, während dessen Verlauf sich der ins Ungleichgewicht geratene Organismus über hormonelleAbläufe an die neue Situation anzupassen versucht. Zweitens stellt Stress im angelsächsischen Raum seit den 1950er Jahren (im deutschsprachigen Raum seit Mitte der 1970er Jahre) einen Belastungsdiskurs dar, der den sozioökonomischen Wandel als pathogen kritisiert und Krankheiten als soziosomatisch und psychosomatisch deutet. Und drittens fungiert Stress in jüngerer Zeit als kultureller Code, der diffuses Unbehagen bündelt und es Individuen ermöglicht, sich selbst zu beschreiben und zu deuten. Die drei Bedeutungsebenen von Stress – Stress als medizinisches
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