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Der ueberforderte Mensch

Der ueberforderte Mensch

Titel: Der ueberforderte Mensch
Autoren: Patrick Kury
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Konzept, Stress als Belastungsdiskurs und Stress als kultureller Code – überschneiden sich mittlerweile auf vielfältige Art und Weise. Dabei ist zu betonen, dass Stress im Gegensatz zu sogenannten Zivilisations- oder Volkskrankheiten wie Neurasthenie, Managerkrankheit und Burnout nicht als Erkrankung begriffen wird. Vielmehr gilt Stress, wie erwähnt, als Verursacher verschiedenster Krankheiten, so dass ihm die Rolle eines ätiologischen Passepartouts zukommt.
    Mein Ziel war es, die Herausbildung und Entwicklung von Stress nachzuzeichnen und zu analysieren. Darüber hinaus sollte Stress im Vergleich mit den Belastungserkrankungen Neurasthenie, Managerkrankheit und Burnout profiliert werden. Folgende Erkenntnisse sind aus dem Vergleich hervorgegangen: Sowohl Stress als auch die genannten Belastungserkrankungen basieren jeweils auf Überlegungen, die unmittelbar an die technischen und sozioökonomischen Bedingungen der jeweiligen Epochen gekoppelt sind. Die Neurasthenie als Krankheit der klassischen Moderne basierte auf der Vorstellung, dass der Organismus wie ein Stromkreislauf funktioniert. Die im deutschen Sprachraum nach 1950 diagnostizierte Managerkrankheit stellte einen direkten Zusammenhang her zwischen Herzkreislauf, Automatisierung und den gestiegenen Belastungen durch Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Zeitalter von Flexibilisierung und digitalen Kommunikationstechnologien schließlich wird die Erschöpfungskrankheit Burnout in Analogie zum Allgemeinen Anpassungssyndrom und Stress als Störung der Botenstoffe, also des biochemischen Informationsaustauschs, begriffen. Die Tatsache, dass die verschiedenen Epochen unterschiedliche Belastungserkrankungen hervorgebracht haben und bringen, die sich auch dem jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik schulden, bedeutet jedoch nicht, dass die Belastungserkrankungen Neurasthenie, Managerkrankheit und Burnout bloße Modeerscheinungen sind. Vielmehr handelt es sich um ernstzunehmende Manifestationen psychischer und physischer Störungen in Phasen raschen gesellschaftlichen, technischen und ökonomischen Wandels.
    Weiter gilt es auf einen herausragenden Unterschied zwischen Neurasthenie und Managerkrankheit auf der einen und Burnout und Stress auf der anderen Seite hinzuweisen. Erstere basieren auf einem statischen Körper- beziehungsweise Erschöpfungsmodell, Burnout und Stress hingegen fußen auf einem dynamischen Gleichgewichtsmodell: Im Zeitalter von Deregulierung und Flexibilisierung beschreiben Stress und Burnout Störungen des physischen und psychischen Gleichgewichts, das durch individuelle Anpassungsleistungen wiederhergestellt werden kann. Zusammen mit Stressbewältigungstechniken bildet das Reden über Stress und Burnout eine diskursive Einheit, die es dem Individuum ermöglicht, sich in den Gesellschaften der Gegenwart zurechtzufinden. Dieses Reden über und der Umgang mit Stress und Burnout bilden ein Relais. Sie vermitteln zwischen dem sozioökonomischen, medialen und technischen Wandel und den Individuen, indem sie es einerseits möglich machen, Unbehagen und Belastungen diesem Wandel zuzuschreiben, und es andererseits dem Einzelnen erlauben, sich laufend an neue Herausforderungen anzupassen. Diese doppelte Funktion von Auflehnung und Anpassung im Reden über und im Umgang mit Stress erklärt dessen großen Erfolg.
    Die individuelle Bewältigung von Stress, wie sie sich in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet hat, ist schließlich aus gesundheits- und gesellschaftspolitischer Perspektive problematisch. Die Fixierung auf die Situation des Einzelnen durch das von der Psychologie propagierte Stressmanagement führt zu einer Entvergesellschaftung gesellschaftlicher Problemlagen. So mögen die auf das Individuum zugeschnittenen Angebote der Stressbewältigung zwar situativ von Nutzen sein, die Selbstoptimierung verschärft jedoch wiederum den Wettbewerb zwischen den Individuen. Mehr oder weniger stillschweigend wird dabei von der Prämisse ausgegangen, dass der Einzelne in der Lage ist, mit ständig wachsenden Herausforderungen umzugehen. Auf diese Weise wird die Frage nach gesellschaftspolitischen Lösungen für die gewachsenen Belastungen im Zuge von Deregulierung, Selbstoptimierung und Beschleunigung ausgeblendet. In den späten 1950er und frühen 1960er Jahren hatte der schwedische Stressforscher Lennart Levi noch ganz in diese Richtung argumentiert. Er forderte, dass sich die Gesellschaft an das Individuum und
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