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Der ueberforderte Mensch

Der ueberforderte Mensch

Titel: Der ueberforderte Mensch
Autoren: Patrick Kury
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Endokrinologie und Biochemie erklären. Ein beachtlicher Teil der Forschenden hatte während der nationalsozialistischen Diktatur Deutschland verlassen müssen, zahlreiche jüdische Wissenschaftler waren von den Nationalsozialisten ermordet worden.
    Neben den unterschiedlichen personellen Voraussetzungen für eine biochemisch orientierte Stressforschung nach 1945 in den USA, Kanada und Skandinavien auf der einen Seite und Deutschland und Österreich auf der anderen Seite fielen auch gesellschaftliche und sozioökonomische Faktoren ins Gewicht. Die besonderen sozioökonomischen Anstrengungen des Wiederaufbaus und das in der Folge forcierte Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik Deutschland brachten einen genuin deutschen Belastungsdiskurs, die Managerkrankheit, hervor, der auch in Österreich und der Schweiz populär wurde. Mit der Managerkrankheit konnte der soziale Wandel der Nachkriegszeit und die wahrgenommene Zunahme von körperlichen und psychischen Belastungen medizinisch gedeutet werden. Die Managerkrankheit wurde zunächst vor allem als Herzgefäßerkrankung verstanden. Doch schon bald deuteten sie zahlreiche Mediziner als psychosomatische Zivilisationskrankheit, deren Ursache in der gesellschaftlichen Situation der 1950er Jahre gesehen und der ganz unterschiedliche Leiden und Symptome zugerechnet wurden. Als Verbrauchs-, Abnützungs- oder Erschöpfungskrankheit bezeichnet, gründete sie auf ähnlichen medizinischen Konzepten wie die ältere Neurasthenie sowie auf mechanistischen Körpervorstellungen. Die Bezeichnung Managerkrankheit war – wie die Bezeichnungen Neurasthenie oder Burnout – grundsätzlich positiv besetzt. Sie stand zwar für die als krank machend angesehenen Folgen von Wiederaufbau und Wachstum, doch war sie zugleich untrennbar mit der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, dem Wirtschaftswunder, verflochten. Darüber hinaus markierte der Semi-Anglizismus Managerkrankheit im Zeitalter einer sich verfestigenden bipolaren Weltordnung die Zugehörigkeit zum westlichen kapitalistischen System. Als Ende der 1950er Jahre wichtige Etappen des Wiederaufbaus geschafft waren und gewerkschaftliche Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer griffen, verlor der vage, zugleich naturwissenschaftlich konzeptlose Begriff der Managerkrankheit – wie auch die Neurasthenie in den 1920er Jahren – rasch an Bedeutung. Er verschwand ähnlich schnell aus der medizinischen Literatur, wie er ein Jahrzehnt zuvor aufgetaucht war. Im Bewusstsein der Bevölkerung blieb der Begriff Managerkrankheit hingegen weit über die 1950er Jahre hinaus haften.
    Die Managerkrankheit stand einer breiten Stressrezeption im deutschen Sprachraum vorerst im Weg. Gleichzeitig ermöglichte sie es deutschen Medizinern, die im Nationalsozialismus Karriere gemacht und sich mit der nationalsozialistischen Leistungsmedizin befasst hatten, ihre wissenschaftlichen Interessen nach 1945 weiter zu verfolgen, ohne sich vorerst auf die angelsächsische Forschung einlassen zu müssen.
    Ein weiterer Grund, weshalb sich das Stresskonzept in den 1950er und 1960er Jahren in der BRD nicht durchsetzte, ist in bundesdeutschen Befindlichkeiten nach dem Zweiten Weltkrieg zu suchen. Für die Übernahme der psychosomatischen und psychosozialen Erkenntnisse aus der nordamerikanischen Stressforschung in Anlehnung an Harold G. Wolff und andere bildete die frühe Bundesrepublik kein geeignetes Terrain. Während Mediziner und eine breite Öffentlichkeit in Westdeutschland und Österreich in der Diskussion um die Managerkrankheit die physischen und psychischen Folgen von Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum thematisierten, wurden die psychischen Folgen von Krieg und Verfolgung nicht mit gleicher Intensität erörtert. Die emotionale Überforderung, die für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft typisch war und sich aus zugleich verursachtem und selbst erlittenem Leid eingestellt hatte, sowie die damals verbreitete Vorstellung von der quasi grenzenlosen Belastbarkeit der menschlichen Psyche standen der Übernahme einer psychosozialen (Stress-) Theorie im Weg.
    Mitte der 1970er Jahre begannen sich Wissenschaft und Medien auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz intensiv mit psychosozialem Stress zu beschäftigen. Innerhalb kurzer Zeit stieg dieser zu einem wissenschaftlich wie gesellschaftlich etablierten Thema auf. Dabei waren es neben Hans Schaefer und anderen Medizinern auch populärwissenschaftliche Ratgeberautoren wie Frederic Vester sowie Fernsehen und
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