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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen
Autoren: Dieter Moitzi
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Kleine Portionen
     
    Sie werden sich mit Splittern begnügen müssen. Kleinen Portionen eines Lebens.
    Meines Lebens.
    Nicht, dass es zersplittert war. Es war bloß keine geradlinige, klare Geschichte. Geschichten sind nie so. Wenn Sie alle Teilchen zusammengesetzt haben, wird sich vielleicht eine unscharfe Form abzeichnen. Die Form meiner Existenz.
    Was Sie hier vorfinden werden, könnte ich erfunden haben. Was Sie hier vorfinden werden, könnte aber auch aus dem Leben gegriffen sein. Ja, manche Dinge, die ich erzähle, sind tatsächlich so vorgefallen. Andere wiederum nicht. Welchen Unterschied macht das für Sie? Gar keinen.
    Als kleines Kind dachte ich oft, ich sei nicht wirklich. Ich war, so scheint es, außerstande, den Sinn, das wirklich erlebte Gefühl, die Bedeutung der Realität zu erfassen. Lange Zeit glaubte ich, irgendwo träume jemand von mir, erträume mein Leben. Wie konnte ich mit Sicherheit wissen, ob ich Recht hatte oder Unrecht? Heute sehe ich, dass mein Kindheitsglauben eine versteckte Wahrheit birgt. Denn heute bin ich es. Ich träume mein eigenes Leben.
    Portionen meines Lebens. Wirkliche, erfundene. Teilchen und Stückchen. »Life is a mystery«, sang Madonna. Das Leben ist ein Geheimnis. Na klar ist es das. Ein Geheimnis und ein immerwährendes Puzzle. Flickwerk.
    Ein Freund hat mich gefragt: »Warum willst du über dich selber schreiben? Was hast du denn schon vom Leben gesehen? Was glaubst du, dass du uns zu sagen hast, ha? Nichts! Weißt du das? Nichts!«
    Einverstanden. Ich mag nicht streiten. Nichts also. Ich werde nichts zusammentragen. Nichtsschnipsel und Nichtskrümel.
    »Glaubst du denn, du kannst uns eine Antwort mitteilen?«, hat der Freund weitergefragt. »Na, kannst du? Hast du die Antwort gefunden? Die richtige und eine und einzige?«
    Wer weiß das schon? Ich sicher nicht. Aber im Leben geht es ohnehin nicht darum, die Antwort zu finden. Es geht darum, die richtigen Fragen zu finden.
    Sie werden an meinen Sätzen kratzen müssen, Sie werden meine Wörter waschen und säubern müssen, Sie werden meine Absätze ausziehen müssen, wenn Sie etwas finden wollen. Hier geht es gar nicht so sehr um mich – das wissen Sie schon? Es geht um Sie. Denn ich trage bloß Wörter zusammen. Der Leser sind letztendlich aber Sie.

Massive Attack
     
    Heute Morgen in der Métro höre ich mir Massive Attack an. »Angels«. Erinnerungen kommen hoch, Erinnerungen an einen Ort, einen Geruch, einen Sommer. In welchem Jahr war das noch? 2003? 2004? Das weiß ich nicht mehr so genau. Ist eigentlich auch egal.
    Das Lied versetzt mich jedenfalls in die Türkei zurück. Wir wohnten in Tekirova, in der Nähe von Antalya. Eines Tages fuhren wir nach Olympos, und zwar mit der Freundin, die wir in der Türkei besuchten. Ein paar Monate zuvor hatte sie diesen Typen kennengelernt, einen netten Türken, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte. Aus einer Laune heraus hatte sie beschlossen, Frankreich zu verlassen. Sie hatte ihr Haus verkauft, ihr Auto. Hatte gekündigt, ihre zwei Töchter zurückgelassen. War in die Türkei gezogen.
    In Tekirova mietete sie eine große Wohnung mit Waschmaschine und Geschirrspüler und Klimaanlage und einer voll ausgestatteten Küche. Sie kaufte sich ein Auto, obwohl sie keinen Job hatte und ihr Freund auch arbeitslos war. Er sprach kaum Französisch. Sie sprach kein Wort Türkisch. Sie trank die ganze Zeit Gin Tonic, rauchte Haschisch, schluckte rezeptpflichtige Pillen: Beruhigungsmittel und Schlaftabletten und alles, was sie benommen machte.
    Nun, der Ausflug nach Olympos. Es war brennheiß, und Zikaden füllten den tiefblauen Tag mit ihrem Gesang aus. Mittag. Grünpflanzen und braune, trockene Erde und ein endloser, makelloser Himmel schimmerten rings um uns. Es roch nach Mittelmeersommer.
    Olympos war für seine Baumhäuser bekannt. Lauter junge Leute schwirrten in der Gegend herum, sonnengebräunte Australierinnen mit Dreadlocks und untersetzte, rotköpfige Engländer mit nacktem Oberkörper und joviale Mädels aus Chicago in weiten Kleidern und blonde, lächelnde Schweden mit unnatürlich weißen Zähnen. Wir setzten uns in eins der Baumhäuser. Ein junger Türke brachte uns Bier und Köfte und Brot. Wir speisten, tranken, rauchten, amüsierten uns. Die Landschaft war ausgebleicht, von der Hitze weißgewaschen. Wirklichkeit ein Wunsch, eine Möglichkeit. Und plötzlich ertönte irgendwo in der Nähe der Baumhäuser Musik in voller Lautstärke. Massive Attack.
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