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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen
Autoren: Dieter Moitzi
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viel zu sehr beeindruckt, als dass ich mich um sie gekümmert hätte. Alles war aufregend: neue Erfahrungen, diese ungewohnte Freiheit. Neue Leute, die man kennen lernte; neue Örtlichkeiten, die man aufsuchen musste; neue Dinge, die man tun musste. Jung und unachtsam und Student sein – das ist von je her ein Fulltime-Job gewesen.
    Erst nach geraumer Zeit entdeckte ich das Elend meiner Schwester. Erst nach geraumer Zeit schob sie die Ärmel ihres Pullovers hoch und zeigte mir die Narben, die das Messer an ihren Unterarmen hinterlassen hatte.

Dudesnude.com
     
    Die allgemeine Stimmung: erregt. 240 Benutzer sind online. Vierzig von ihnen haben ihre Webcam eingeschaltet. Die anderen bleiben lieber gesichtslose, körperlose Spitznamen. Lauter Chatroom-Versprechen, die in lockenden Nicks zum Ausdruck kommen: hairy_hot20, str8boy, 18oz, nz-slut.
    Die vierzig, die ihre Webcams an haben, zeigen hauptsächlich ihre unteren Körperteile. Kaum Gesichter, wenig Lächeln. Erwachsenen-Chat mit Webcam ist eine ernste Angelegenheit.
    Stöhnen. Männer reiben an sich herum. Haut glänzt, Körperbehaarung raschelt. Ein unbeschnittener Australier. Ein rasierter Brustkorb aus Indianapolis. Mexikanischer Pelz. L.A.-Saft. Die schriftlichen Wortwechsel drehen sich um: Lob für diesen Burschen, Ansporn für jenen Akt, Komm-schons, lauter Beifall, wenn ein Höhepunkt angekündigt, erreicht und gezeigt wird.
    Ich sehe mir das Spektakel an. Meine Webcam ist eingeschaltet und auf mein Gesicht gerichtet. Mein Freund sitzt auf der Couch und spielt auf seinem Laptop Solitaire.
    Und plötzlich streckt mir jemand die Hand entgegen und kommuniziert mit mir. Sein Nick ist »fulloflove«. Seine Webcam ist eingeschaltet, ich sehe das hübsche Gesicht eines jungen Inders, um die 20, 21. Er liegt voll angekleidet auf seinem Bett. Eine willkommene Abwechslung nach all den nackten Tatsachen. Aber was kann ich mir von »dudesnude« auch anderes erwarten, nicht wahr?
    Der Junge sieht mich an, ein scheues Lächeln spielt um seine Lippen. Wir plaudern miteinander, ohne Hintergedanken. Wir ziehen uns aber nicht in einen privaten Chat zurück. Nein, wir stellen unsere Fragen und Antworten in den öffentlichen Chatroom, mitten in all die Bekundungen von Begierde und Lust.
    Er ist vor wenigen Tagen von New Delhi nach San Francisco gezogen und wohnt bei seinem Cousin. Er hat vor Ort noch keine Freunde, die Stadt ist ihm neu, das Land fremd. Seine charmante Unschuld berührt mich.
    Er sucht seinen Märchenprinzen, sehnt sich nach seinem Mister Darcy. Als ich ihm von meinem Freund und unserer Beziehung erzähle, ist er ganz fasziniert. Er schreibt: »Ich möchte auch neben jemandem aufwachen.« Er schreibt: »Du hast aber Glück, dass du so einen außerordentlichen Mann gefunden hast.«
    Wir plaudern über Alltägliches wie zum Beispiel mit dem Hund Gassi gehen, Abendessen zubereiten. Wir tauschen Kochtipps und Rezepte aus.
    Unser Wortwechsel nimmt sich komisch aus. Während die anderen herumfummeln, in die Webcam stieren, steif werden, einen Höhepunkt haben, erörtern wir Curry und wie man ein französisches Mahl zubereitet. »Redet ihr Jungs über Erdäpfel?« fragt einer mit Nick hairyhot.
    »Erdäpfel und Liebe«, antworte ich.

Teenager auf einer Bank
     
    Es ist Frühling. Die Jahreszeit der Launen und Neuerungen, die Jahreszeit der Verhei ß ungen und Hoffnungen. Der Junge sitzt auf einer Bank in dieser Provinzstadt. Eine sanfte Briese bewegt die klargrünen Blätter in den Bäumen hinter ihm. Der leichte Wind spielt auch mit dem Haar des Jungen.
    Der Junge wartet, nervös, rastlos, verwirrt. Schaut den Autos nach. Schaut den Leuten in den Autos nach. Versucht sich vorzustellen, wie ihr Leben sein könnte. Versucht zu verstehen. Er fühlt einen nagenden Schmerz in seinem Herzen. »Sometimes I feel like I’m living at the edge of the world«, singt er halblaut vor sich hin.
    The edge of the world. Das Ufer der Welt. Die Grenze zum Erwachsenenalter. Der Rand zu neuen Gebieten, bis dahin unerhörten, unerdachten Räumen.
    »It’s just the way you smile«, singt der Junge. »Es ist bloß deine Art zu lächeln«. Er weiss nicht, was er denken soll, also singt er lieber vor sich hin. Singt den Schmerz weg, singt die unerwünschten Gefühle weg, singt diese eigenartige Sehnsucht weg, die in der Luft zu schwingen scheint. Eine Sehnsucht, die nach Blüten und Gras und Frühling und Auspuffgas riecht.
    Alles sieht so kompliziert und verdreht aus. Leid und Freude,
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