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Kleider machen Leute

Kleider machen Leute

Titel: Kleider machen Leute
Autoren: Gottfried Keller
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standen
    andere Hausgeister, alle mit der Mütze in der Hand, und Stra-
    pinski schritt mit gutem Anstand und doch bescheiden hin-
    aus, seinen Mantel sittsam zusammennehmend. Das Schick-
    sal machte ihn mit jeder Minute größer.
    Mit ganz anderer Miene besah er sich die Stadt, als wenn
    er um Arbeit darin ausgegangen wäre. Dieselbe bestand größ-
    tenteils aus schönen, festgebauten Häusern, welche alle mit
    steinernen oder gemalten Sinnbildern geziert und mit einem
    Namen versehen waren. In diesen Benennungen war die Sitte
    der Jahrhunderte deutlich zu erkennen. Das Mittelalter spie-
    gelte sich ab in den ältesten Häusern oder in den Neubauten,
    welche an deren Stelle getreten, aber den alten Namen behal-
    ten aus der Zeit der kriegerischen Schultheiße und der Mär-
    chen. Da hieß es zum Schwert, zum Eisenhut, zum Harnisch,
    zur Armbrust, zum blauen Schild, zum Schweizerdegen, zum
    Ritter, zum Büchsenstein, zum Türken, zum Meerwunder,
    zum goldnen Drachen, zur Linde, zum Pilgerstab, zur Was-
    serfrau, zum Paradiesvogel, zum Granatbaum, zum Käm-
    bel, zum Einhorn und dergleichen. Die Zeit der Aufklärung
    und der Philanthropie war deutlich zu lesen in den morali-
    schen Begriffen, welche in schönen Goldbuchstaben über den
    Haustüren erglänzten, wie zur Eintracht, zur Redlichkeit, zur
    alten Unabhängigkeit, zur neuen Unabhängigkeit, zur Bür-
    gertugend a, zur Bürgertugend b, zum Vertrauen, zur Liebe,
    zur Hoffnung, zum Wiedersehen  und 2, zum Frohsinn, zur
    inneren Rechtlichkeit, zur äußeren Rechtlichkeit, zum Lan-
    deswohl (ein reinliches Häuschen, in welchem hinter einem
    Kanarienkäficht, ganz mit Kresse behängt, eine freundliche
    alte Frau saß mit einer weißen Zipfelhaube und Garn haspelte),
    zur Verfassung (unten hauste ein Bötticher, welcher eifrig und
    mit großem Geräusch kleine Eimer und Fäßchen mit Reifen
    einfaßte und unablässig klopfte); ein Haus hieß schauerlich
    zum Tod! ein verwaschenes Gerippe erstreckte sich von unten
    bis oben zwischen den Fenstern; hier wohnte der Friedens-
    richter. Im Hause zur Geduld wohnte der Schuldenschreiber,
    ein ausgehungertes Jammerbild, da in dieser Stadt keiner dem
    andern etwas schuldig blieb.
    Endlich verkündete sich an den neuesten Häusern die
    Poesie der Fabrikanten, Bankiere und Spediteure und ihrer
    Nachahmer in den wohlklingenden Namen Rosental, Mor-
    gental, Sonnenberg, Veilchenburg, Jugendgarten, Freuden-
    berg, Henriettental, zur Camelia, Wilhelminenburg usw. Die
    an Frauennamen gehängten Täler und Burgen bedeuteten für
    den Kundigen immer ein schönes Weibergut.
    An jeder Straßenecke stand ein alter Turm mit reichem
    Uhrwerk, buntem Dach und zierlich vergoldeter Windfahne.
    Diese Türme waren sorgfältig erhalten; denn die Goldacher
    erfreuten sich der Vergangenheit und der Gegenwart und ta-
    ten auch recht daran. Die ganze Herrlichkeit war aber von der
    alten Ringmauer eingefaßt, welche, obwohl nichts mehr nütze,
    dennoch zum Schmucke beibehalten wurde, da sie ganz mit
    dichtem altem Efeu überwachsen war und so die kleine Stadt
    mit einem immergrünen Kranze umschloß.
    Alles dieses machte einen wunderbaren Eindruck auf
    Strapinski; er glaubte sich in einer anderen Welt zu befinden.
    Denn als er die Aufschriften der Häuser las, dergleichen er
    noch nicht gesehen, war er der Meinung, sie bezögen sich auf
    die besondern Geheimnisse und Lebensweisen jedes Hauses
    und es sähe hinter jeder Haustüre wirklich so aus, wie die
    Überschrift angab, so daß er in eine Art moralisches Utopien
    hineingeraten wäre. So war er geneigt zu glauben, die wun-
    derliche Aufnahme, welche er gefunden, hänge hiemit im Zu-
    sammenhang, so daß z. B. das Sinnbild der Waage, in welcher
    er wohnte, bedeute, daß dort das ungleiche Schicksal abgewo-
    gen und ausgeglichen und zuweilen ein reisender Schneider
    zum Grafen gemacht würde.
    Er geriet auf seiner Wanderung auch vor das Tor, und wie
    er nun so über das freie Feld hinblickte, meldete sich zum letz-
    ten Male der pflichtgemäße Gedanke, seinen Weg unverweilt
    fortzusetzen. Die Sonne schien, die Straße war schön, fest,
    nicht zu trocken und auch nicht zu naß, zum Wandern wie
    gemacht. Reisegeld hatte er nun auch, so daß er angenehm
    einkehren konnte, wo er Lust dazu verspürte, und kein Hin-
    dernis war zu erspähen.
    Da stand er nun, gleich dem Jüngling am Scheidewege, auf
    einer wirklichen Kreuzstraße; aus dem Lindenkranze, wel-
    cher die Stadt umgab, stiegen gastliche
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