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Kleider machen Leute

Kleider machen Leute

Titel: Kleider machen Leute
Autoren: Gottfried Keller
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sanfter Festigkeit trat ihm Nettchen
    entgegen. Sie dankte ihrem Vater mit Rührung für alle ihr
    bewiesene Liebe und Güte und erklärte sodann in bestimm-
    ten Sätzen erstens, sie wolle nach dem Vorgefallenen nicht
    mehr in Goldach leben, wenigstens nicht die nächsten Jahre;
    zweitens wünsche sie ihr bedeutendes mütterliches Erbe an
    sich zu nehmen, welches der Vater ja schon lange für den Fall
    ihrer Verheiratung bereitgehalten; drittens wolle sie den Wen-
    zel Strapinski heiraten, woran vor allem nichts zu ändern sei;
    viertens wolle sie mit ihm in Seldwyla wohnen und ihm da
    ein tüchtiges Geschäft gründen helfen, und fünftens und letz-
    tens werde alles gut werden; denn sie habe sich überzeugt, daß
    er ein guter Mensch sei und sie glücklich machen werde.
    Der Amtsrat begann seine Arbeit mit der Erinnerung,
    daß Nettchen ja wisse, wie sehr er schon gewünscht habe, ihr
    Vermögen zur Begründung ihres wahren Glückes je eher, je
    lieber in ihre Hände legen zu können. Dann aber schilderte
    er mit aller Bekümmernis, die ihn seit der ersten Kunde von
    der schrecklichen Katastrophe erfüllte, das Unmögliche des
    Verhältnisses, das sie festhalten wolle, und schließlich zeigte
    er das große Mittel, durch welches sich der schwere Konflikt
    allein würdig lösen lasse. Herr Melchior Böhni sei es, der be-
    reit sei, durch augenblickliches Einstehen mit seiner Person
    den ganzen Handel niederzuschlagen und mit seinem un-
    antastbaren Namen ihre Ehre vor der Welt zu schützen und
    aufrechtzuhalten.
    Aber das Wort Ehre brachte nun doch die Tochter in grö-
    ßere Aufregung. Sie rief, gerade die Ehre sei es, welche ihr ge-
    biete, den Herren Böhni nicht zu heiraten, weil sie ihn nicht
    leiden könne, dagegen dem armen Fremden getreu zu bleiben,
    welchem sie ihr Wort gegeben habe und den sie auch leiden
    könne!
    Es gab nun ein fruchtloses Hin- und Widerreden, welches
    die standhafte Schöne endlich doch zum Tränenvergießen
    brachte.
    Fast gleichzeitig drangen Wenzel und Böhni herein, welche
    auf der Treppe zusammengetroffen, und es drohte eine große
    Verwirrung zu entstehen, als auch der Rechtsanwalt erschien,
    ein dem Amtsrate wohlbekannter Mann, und vorderhand zur
    friedlichen Besonnenheit mahnte. Als er in wenigen vorläu-
    figen Worten vernahm, worum es sich handle, ordnete er an,
    daß vor allem Wenzel sich in den Wilden Mann zurückziehe
    und sich dort stillhalte, daß auch Herr Böhni sich nicht ein-
    mische und fortgehe, daß Nettchen ihrerseits alle Formen des
    bürgerlichen guten Tones wahre bis zum Austrag der Sache
    und der Vater auf jede Ausübung von Zwang verzichte, da die
    Freiheit der Tochter gesetzlich unbezweifelt sei.
    So gab es denn einen Waffenstillstand und eine allgemeine
    Trennung für einige Stunden.
    In der Stadt, wo der Anwalt ein paar Worte verlauten ließ
    von einem großen Vermögen, welches vielleicht nach Seldwyla
    käme durch diese Geschichte, entstand nun ein großer Lärm.
    Die Stimmung der Seldwyler schlug plötzlich um zugunsten
    des Schneiders und seiner Verlobten, und sie beschlossen, die
    Liebenden zu schützen mit Gut und Blut und in ihrer Stadt
    Recht und Freiheit der Person zu wahren. Als daher das Ge-
    rücht ging, die Schöne von Goldach solle mit Gewalt zurückge-
    führt werden, rotteten sie sich zusammen, stellten bewaffnete
    Schutz- und Ehrenwachen vor den Regenbogen und vor den
    Wilden Mann und begingen überhaupt mit gewaltiger Lust-
    barkeit eines ihrer großen Abenteuer, als merkwürdige Fort-
    setzung des gestrigen.
    Der erschreckte und gereizte Amtsrat schickte seinen
    Böhni nach Goldach um Hilfe. Der fuhr im Galopp hin, und
    am nächsten Tage fuhren eine Anzahl Männer mit einer an-
    sehnlichen Polizeimacht von dort herüber, um dem Amtsrat
    beizustehen, und es gewann den Anschein, als ob Seldwyla ein
    neues Troja werden sollte. Die Parteien standen sich drohend
    gegenüber; der Stadttambour drehte bereits an seiner Spann-
    schraube und tat einzelne Schläge mit dem rechten Schlegel.
    Da kamen höhere Amtspersonen, geistliche und weltliche
    Herren, auf den Platz, und die Unterhandlungen, welche all-
    seitig gepflogen wurden, ergaben endlich, da Nettchen fest
    blieb und Wenzel sich nicht einschüchtern ließ, aufgemuntert
    durch die Seldwyler, daß das Aufgebot ihrer Ehe nach Samm-
    lung aller nötigen Schriften förmlich stattfinden und daß ge-
    wärtigt werden solle, ob und welche gesetzliche Einsprachen
    während dieses Verfahrens dagegen
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