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Kleider machen Leute

Kleider machen Leute

Titel: Kleider machen Leute
Autoren: Gottfried Keller
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weint, fast immer zugleich auch die Nase schneu-
    zen muß, so sah sie sich doch genötigt, das Taschentuch zu
    nehmen, und tat einen tüchtigen Schneuz, worauf sie stolz
    und zornig um sich blickte. In dieses Blicken hinein geriet
    Melchior Böhni, der sich ihr freundlich, demütig und lächelnd
    näherte und ihr die Notwendigkeit darstellte, nunmehr einen
    Führer und Begleiter nach dem väterlichen Hause zurück zu
    haben. Den Teich Bethesda, sagte er, werde er hier im Gast-
    hause zurücklassen und dafür die Fortuna mit der verehrten
    Unglücklichen sicher nach Goldach hin geleiten.
    Ohne zu antworten, ging sie festen Schrittes voran nach
    dem Hofe, wo der Schlitten mit den ungeduldigen wohlge-
    fütterten Pferden bereitstand, einer der letzten, welche dort
    waren. Sie nahm rasch darin Platz, ergriff das Leitseil und die
    Peitsche, und während der achtlose Böhni, mit glücklicher Ge-
    schäftigkeit sich gebärdend, dem Stallknechte, der die Pferde
    gehalten, das Trinkgeld hervorsuchte, trieb sie unversehens
    die Pferde an und fuhr auf die Landstraße hinaus in starken
    Sätzen, welche sich bald in einen anhaltenden muntern Ga-
    lopp verwandelten. Und zwar ging es nicht nach der Heimat,
    sondern auf der Seldwyler Straße hin. Erst als das leichtbe-
    schwingte Fahrzeug schon dem Blick entschwunden war, ent-
    deckte Herr Böhni das Ereignis und lief in der Richtung gegen
    Goldach mit Hoho! und Haltrufen, sprang dann zurück und
    jagte mit seinem eigenen Schlitten der entflohenen oder nach
    seiner Meinung durch die Pferde entführten Schönen nach,
    bis er am Tore der aufgeregten Stadt anlangte, in welcher das
    Ärgernis bereits alle Zungen beschäftigte.
    Warum Nettchen jenen Weg eingeschlagen, ob in der Ver-
    wirrung oder mit Vorsatz, ist nicht sicher zu berichten. Zwei
    Umstände mögen hier ein leises Licht gewähren. Einmal la-
    gen sonderbarerweise die Pelzmütze und die Handschuhe
    Strapinskis, welche auf dem Fenstersimse hinter dem Sitze
    des Paares gelegen hatten, nun im Schlitten der Fortuna ne-
    ben Nettchen; wann und wie sie diese Gegenstände ergriffen,
    hatte niemand beachtet, und sie selbst wußte es nicht; es war
    wie im Schlafwandel geschehen. Sie wußte jetzt noch nicht,
    daß Mütze und Handschuhe neben ihr lagen. Sodann sagte
    sie mehr als einmal laut vor sich hin: „Ich muß noch zwei
    Worte mit ihm sprechen, nur zwei Worte!“
    Diese beiden Tatsachen scheinen zu beweisen, daß nicht
    ganz der Zufall die feurigen Pferde lenkte. Auch war es selt-
    sam, als die Fortuna in die Waldstraße gelangte, in welche
    jetzt der helle Vollmond hineinschien, wie Nettchen den Lauf
    der Pferde mäßigte und die Zügel fester anzog, so daß diesel-
    ben beinah nur im Schritt einhertanzten, während die Lenke-
    rin die traurigen, aber dennoch scharfen Augen gespannt auf
    den Weg heftete, ohne links und rechts den geringsten auffäl-
    ligen Gegenstand außer acht zu lassen.
    Und doch war gleichzeitig ihre Seele wie in tiefer schwerer
    unglücklicher Vergessenheit befangen. Was sind Glück und
    Leben! Von was hangen sie ab? Was sind wir selbst, daß wir
    wegen einer lächerlichen Fastnachtslüge glücklich oder un-
    glücklich werden? Was haben wir verschuldet, wenn wir durch
    eine fröhliche gläubige Zuneigung Schmach und Hoffnungs-
    losigkeit einernten? Wer sendet uns solche einfältige Trugge-
    stalten, die zerstörend in unser Schicksal eingreifen, während
    sie sich selbst daran auflösen wie schwache Seifenblasen?
    Solche mehr geträumte als gedachte Fragen umfingen die
    Seele Nettchens, als ihre Augen sich plötzlich auf einen läng-
    lichen dunklen Gegenstand richteten, welcher zur Seite der
    Straße sich vom mondbeglänzten Schnee abhob. Es war der
    langhingestreckte Wenzel, dessen dunkles Haar sich mit dem
    Schatten der Bäume vermischte, während sein schlanker Kör-
    per deutlich im Lichte lag.
    Nettchen hielt unwillkürlich die Pferde an, womit eine tiefe
    Stille über den Wald kam. Sie starrte unverwandt nach dem
    dunklen Körper, bis derselbe sich ihrem hellsehenden Auge
    fast unverkennbar darstellte und sie leise die Zügel festband,
    ausstieg, die Pferde einen Augenblick beruhigend streichelte
    und sich hierauf der Erscheinung vorsichtig, lautlos näherte.
    Ja, er war es. Der dunkelgrüne Samt seines Rockes nahm
    sich selbst auf dem nächtlichen Schnee schön und edel aus; der
    schlanke Leib und die geschmeidigen Glieder, wohl geschnürt
    und bekleidet, alles sagte noch in der Erstarrung, am
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