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Kleider machen Leute

Kleider machen Leute

Titel: Kleider machen Leute
Autoren: Gottfried Keller
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Rande
    des Unterganges, im Verlorensein Kleider machen Leute!
    Als sich die einsame Schöne näher über ihn hinbeugte und
    ihn ganz sicher erkannte, sah sie auch sogleich die Gefahr, in
    der sein Leben schwebte, und fürchtete, er möchte bereits er-
    froren sein. Sie ergriff daher unbedenklich eine seiner Hände,
    die kalt und fühllos schien. Alles andere vergessend, rüttelte
    sie den Ärmsten und rief ihm seinen Taufnamen ins Ohr:
    „Wenzel! Wenzel!“ Umsonst, er rührte sich nicht, sondern at-
    mete nur schwach und traurig. Da fiel sie über ihn her, fuhr
    mit der Hand über sein Gesicht und gab ihm in der Beängsti-
    gung Nasenstüber auf die erbleichte Nasenspitze. Dann nahm
    sie, hiedurch auf einen guten Gedanken gebracht, Hände voll
    Schnee und rieb ihm die Nase und das Gesicht und auch die
    Finger tüchtig, soviel sie vermochte und bis sich der glücklich
    Unglückliche erholte, erwachte und langsam seine Gestalt in
    die Höhe richtete.
    Er blickte um sich und sah die Retterin vor sich stehen. Sie
    hatte den Schleier zurückgeschlagen; Wenzel erkannte jeden
    Zug in ihrem weißen Gesicht, das ihn ansah mit großen Augen.
    Er stürzte vor ihr nieder, küßte den Saum ihres Mantels
    und rief: „Verzeih mir! Verzeih mir!“
    „Komm, fremder Mensch!“ sagte sie mit unterdrückter zit-
    ternder Stimme, „ich werde mit dir sprechen und dich fort-
    schaffen!“
    Sie winkte ihm, in den Schlitten zu steigen, was er folgsam
    tat; sie gab ihm Mütze und Handschuh, ebenso unwillkürlich,
    wie sie dieselben mitgenommen hatte, ergriff Zügel und Peit-
    sche und fuhr vorwärts.
    Jenseits des Waldes, unfern der Straße, lag ein Bauernhof,
    auf welchem eine Bäuerin hauste, deren Mann unlängst ge-
    storben. Nettchen war die Patin eines ihrer Kinder sowie der
    Vater Amtsrat ihr Zinsherr. Noch neulich war die Frau bei ih-
    nen gewesen, um der Tochter Glück zu wünschen und allerlei
    Rat zu holen, konnte aber zu dieser Stunde noch nichts von
    dem Wandel der Dinge wissen.
    Nach diesem Hofe fuhr Nettchen jetzt, von der Straße ab-
    lenkend und mit einem kräftigen Peitschenknallen vor dem
    Hause haltend. Es war noch Licht hinter den kleinen Fenstern;
    denn die Bäuerin war wach und machte sich zu schaffen, wäh-
    rend Kinder und Gesinde längst schliefen. Sie öffnete das Fen-
    ster und guckte verwundert heraus. „Ich bin’s nur, wir sind’s!“
    rief Nettchen. „Wir haben uns verirrt wegen der neuen oberen
    Straße, die ich noch nie gefahren bin; macht uns einen Kaffee,
    Frau Gevatterin, und laßt uns einen Augenblick hineinkom-
    men, ehe wir weiterfahren!“
    Gar vergnügt eilte die Bäuerin her, da sie Nettchen sofort
    erkannte, und bezeigte sich entzückt und eingeschüchtert
    zugleich, auch das große Tier, den fremden Grafen, zu sehen.
    In ihren Augen waren Glück und Glanz dieser Welt in die-
    sen zwei Personen über ihre Schwelle getreten; unbestimmte
    Hoffnungen, einen kleinen Teil daran, irgendeinen beschei-
    denen Nutzen für sich oder ihre Kinder zu gewinnen, beleb-
    ten die gute Frau und gaben ihr alle Behendigkeit, die jungen
    Herrschaftsleute zu bedienen. Schnell hatte sie ein Knecht-
    chen geweckt, die Pferde zu halten, und bald hatte sie auch ei-
    nen heißen Kaffee bereitet, welchen sie jetzt hereinbrachte, wo
    Wenzel und Nettchen in der halbdunklen Stube einander ge-
    genübersaßen, ein schwach flackerndes Lämpchen zwischen
    sich auf dem Tische.
    Wenzel saß, den Kopf in die Hände gestützt, und wagte
    nicht aufzublicken. Nettchen lehnte auf ihrem Stuhle zurück
    und hielt die Augen fest verschlossen, aber ebenso den bittern
    schönen Mund, woran man sah, daß sie keineswegs schlief.
    Als die Gevattersfrau den Trank auf den Tisch gesetzt hatte,
    erhob sich Nettchen rasch und flüsterte ihr zu: „Laßt uns jetzt
    eine Viertelstunde allein, legt Euch aufs Bett, liebe Frau, wir
    haben uns ein bißchen gezankt und müssen uns heute noch
    aussprechen, da hier gute Gelegenheit ist!“
    „Ich verstehe schon, Ihr macht’s gut so!“ sagte die Frau und
    ließ die zwei bald allein.
    „Trinken Sie dies,“ sagte Nettchen, die sich wieder gesetzt
    hatte, „es wird Ihnen gesund sein!“ Sie selbst berührte nichts.
    Wenzel Strapinski, der leise zitterte, richtete sich auf, nahm
    eine Tasse und trank sie aus, mehr weil sie es gesagt hatte, als
    um sich zu erfrischen. Er blickte sie jetzt auch an, und als ihre
    Augen sich begegneten und Nettchen forschend die seinigen
    betrachtete, schüttelte sie das
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