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Kleider machen Leute

Kleider machen Leute

Titel: Kleider machen Leute
Autoren: Gottfried Keller
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dieser
    Gebilde saß auf den geräumigen, je von vier Pferden gezoge-
    nen Schlitten die Seldwyler Gesellschaft in buntester Tracht,
    mit lautem Gelächter und Gesang.
    Als beide Züge gleichzeitig auf dem Platze vor dem Gast-
    hause auffuhren, gab es demnach einen geräuschvollen
    Auftritt und ein großes Gedränge von Menschen und Pfer-
    den. Die Herrschaften von Goldach waren überrascht und
    erstaunt über die abenteuerliche Begegnung; die Seldwyler
    dagegen stellten sich vorerst gemütlich und freundschaftlich
    bescheiden. Ihr vorderster Schlitten mit der Fortuna trug die
    Inschrift: „Leute machen Kleider“, und so ergab es sich denn,
    daß die ganze Gesellschaft lauter Schneidersleute von allen
    Nationen und aus allen Zeitaltern darstellte. Es war gewis-
    sermaßen ein historischethnographischer Schneiderfestzug,
    welcher mit der umgekehrten und ergänzenden Inschrift ab-
    schloß: „Kleider machen Leute!“ In dem letzten Schlitten mit
    dieser Überschrift saßen nämlich, als das Werk der vorausge-
    fahrenen heidnischen und christlichen Nahtbeflissenen aller
    Art, ehrwürdiger Kaiser und Könige, Ratsherren und Stabs-
    offiziere, Prälaten und Stiftsdamen in höchster Gravität.
    Diese Schneiderwelt wußte sich gewandt aus dem Wirr-
    warr zu ordnen und ließ die Goldacher Herren und Damen,
    das Brautpaar an deren Spitze, bescheiden ins Haus spazie-
    ren, um nachher die unteren Räume desselben, welche für sie
    bestellt waren, zu besetzen, während jene die breite Treppe
    empor nach dem großen Festsaale rauschten. Die Gesellschaft
    des Herren Grafen fand dies Benehmen schicklich, und ihre
    Überraschung verwandelte sich in Heiterkeit und beifälliges
    Lächeln über die unverwüstliche Laune der Seldwyler; nur der
    Graf selbst hegte gar dunkle Empfindungen, die ihm nicht be-
    hagten, obgleich er in der jetzigen Voreingenommenheit sei-
    ner Seele keinen bestimmten Argwohn verspürte und nicht
    einmal bemerkt hatte, woher die Leute gekommen waren.
    Melchior Böhni, der seinen Teich Bethesda sorglich beiseite
    gebracht hatte und sich aufmerksam in der Nähe Strapinskis
    befand, nannte laut, daß dieser es hören konnte, eine ganz
    andere Ortschaft als den Ursprungsort des Maskenzuges.
    Bald saßen beide Gesellschaften, jegliche auf ihrem Stock-
    werke, an den gedeckten Tafeln und gaben sich fröhlichen Ge-
    sprächen und Scherzreden hin, in Erwartung weiterer Freuden.
    Die kündigten sich denn auch für die Goldacher an, als
    sie paarweise in den Tanzsaal hinüberschritten und dort die
    Musiker schon ihre Geigen stimmten. Wie nun aber alles im
    Kreise stand und sich zum Reihen ordnen wollte, erschien
    eine Gesandtschaft der Seldwyler, welche das freundnachbar-
    liche Gesuch und Anerbieten vortrug, den Herren und Frauen
    von Goldach einen Besuch abstatten zu dürfen und ihnen zum
    Ergötzen einen Schautanz aufzuführen. Dieses Anerbieten
    konnte nicht wohl zurückgewiesen werden; auch versprach
    man sich von den lustigen Seldwylern einen tüchtigen Spaß
    und setzte sich daher nach der Anordnung der besagten Ge-
    sandtschaft in einem großen Halbring, in dessen Mitte Stra-
    pinski und Nettchen glänzten gleich fürstlichen Sternen.
    Nun traten allmählich jene besagten Schneidergruppen
    nacheinander ein. Jede führte in zierlichem Gebärdenspiel den
    Satz „Leute machen Kleider“ und dessen Umkehrung durch,
    indem sie erst mit Emsigkeit irgendein stattliches Kleidungs-
    stück, einen Fürstenmantel, Priestertalar und dergleichen an-
    zufertigen schien und sodann eine dürftige Person damit be-
    kleidete, welche, urplötzlich umgewandelt, sich in höchstem
    Ansehen aufrichtete und nach dem Takte der Musik feierlich
    einherging. Auch die Tierfabel wurde in diesem Sinne in Szene
    gesetzt, da eine gewaltige Krähe erschien, die sich mit Pfauen-
    federn schmückte und quakend umherhupfte, ein Wolf, der
    sich einen Schafspelz zurechtschneiderte, schließlich ein Esel,
    der eine furchtbare Löwenhaut von Werg trug und sich hero-
    isch damit drapierte wie mit einem Carbonarimantel.
    Alle, die so erschienen, traten nach vollbrachter Darstel-
    lung zurück und machten allmählich so den Halbkreis der
    Goldacher zu einem weiten Ring von Zuschauern, dessen in-
    nerer Raum endlich leer ward. In diesem Augenblicke ging
    die Musik in eine wehmütig ernste Weise über, und zugleich
    beschritt eine letzte Erscheinung den Kreis, dessen Augen
    sämtlich auf sie gerichtet waren. Es war ein schlanker junger
    Mann in dunklem
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