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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher
Autoren: Hartmut Fladt
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Einleitung: Eine Sprache, die jeder versteht?
Über babylonische Sprachverwirrungen in der Musik
    In vielen Sonntagsreden von Politikern, Gesangsvereinsvorsitzenden, Kulturmanagern und Medienbossen wird ein Satz über die Musik bemüht, der allgemeine Zustimmung genießt. Dabei ist aber der fromme Wunsch der Vater des Gedankens und die Ignoranz seine Mutter. Der Satz lautet: Musik ist eine Sprache, die jeder versteht.
    Das ist blühender Unsinn. »Musik« hat dutzende, ja hunderte »Sprachen« mit Tausenden Redewendungen, Vokabeln, mit unterschiedlichster Syntax und Grammatik. Da herrscht eine Sprachverwirrung babylonischen Ausmaßes. Der Satz müsste korrekt lauten: Wer versteht wessen Musik-Sprache NICHT, und warum?
    Oft überwältigt uns das Gefühl, kopfüber in die Musik eingesogen zu werden, und dieses »Kopfüber« überwältigt dermaßen, dass es uns wie »kopflos« erscheint: als Gefühl, bei dem Denken und Wissen ausgeschaltet sind, als pure Emotion. Ein solcher metaphorischer »Hörsturz« kann bei jeder Musik geschehen, aus jedem musikalischen Genre, aus jeder historischen Epoche, aus jeder Musikkultur. Nur: was meinen Nachbarn überwältigt, kann mich völlig kaltlassen. Ich flippe da aus, wo meine Kollegin nur den Kopf schüttelt. Und wo Massensuggestionen im Spiel sind, meldet die Vernunft ihr verzweifeltes NEIN an. Warum? Wie kann ein solches Bündel an Widersprüchlichem erklärt werden?
    Der Hiphop-Hörer schaltet beim späten Beethoven ebenso ab wie der Beethoven-Fan beim Mainstream-Pop, der Alte-Musik-Spezialist schaltet bei Techno ebenso ab wie der Techno-Freak bei Arnold Schönberg. Wenn sie aber alle zusammen beispielsweise die originalen Haifischgesänge von ozeanischen Fischern hören sollen – oder auch die original Fischer-Chöreaus dem Schwaben-Ländle –, sind sie sich plötzlich völlig einig in kopfschüttelnder Ablehnung. Wie sind diese Ablehnungen begründet?
    Einerseits kann man das jeweils andere nicht verstehen – weil wesentliche Voraussetzungen und Kenntnisse fehlen (wohlgemerkt, sie fehlen allen, dem Beethoven-Fan ebenso wie dem Techno-Freak und dem Fischer-Choristen). Andererseits will man das oft auch gar nicht verstehen, und das aus vielfältigen Gründen, die in der Regel sozialpsychologische und private und nicht musikalische Wurzeln haben.
    Die politisch korrekte Form der ästhetischen Ablehnung ist übrigens ein durch die Zähne gepresstes »in – ter – es – sant!«
    Joseph Haydn war in den 1780er/1790er Jahren der berühmteste Komponist Europas. Als er seinem viel jüngeren Freund Wolfgang Amadé Mozart erzählte, er wolle nach London reisen, um auch dort mit seiner Kunst Erfolg zu haben (das geschah dann auf eine wahrhaft überwältigende Weise), warnte ihn der welterfahrene Mozart, der selbst fünf Sprachen beherrschte: »Sie haben keine Erziehung für die große Welt gehabt, und reden zu wenige Sprachen.« – »O«, erwiderte Haydn, »meine Sprache versteht man durch die ganze Welt.« 1
    Wenn Haydn hier von der »ganzen Welt« sprach, dann meinte er selbstverständlich die europäische Kulturträgerschicht – die hatte damals eine wirklich weitgehend gemeinsame musikalische »Sprache«. Diese Sprache war das Resultat einer vergleichbaren musikalischen Sozialisation des Publikums, auf der Basis von ähnlichen Bildungsvoraussetzungen. Und dieses Publikum war ebenso selbstverständlich durch soziale Schranken und durch das Bildungsprivileg definiert. Haydns »Londoner Sinfonien« mit ihrer verblüffenden Mischung aus Popularem und höchster Kunstfertigkeit waren nicht für »die« Londoner da, sondern für das gebildete adlig-bürgerliche Publikum, das die Voraussetzungen hatte, diese Musik zu verstehen – und das sich die extrem hohen Eintrittspreise leisten konnte.
    Die Utopie der »Idee einer Sprache der Musik« – ohne soziale, ethnische und andere Schranken von allen Menschen verstehbar und erlebbar –, diese zutiefst demokratische Utopie beflügelt die Musik seit der Aufklärung und seit der Wiener Klassik.
    Zu dieser wunderbaren Idee gehört es also, dass immer auch das »Populare« in der Musik verankert ist, als ein wesentliches und gleichberechtigtes Element unter anderen. »Pop« kommt ja vom lateinischen »popularis«. »Popular« – das kann man nun englisch oder deutsch aussprechen; wenn man es allerdings englisch oder deutsch denkt, wird man auf Unterschiede stoßen: »Volk« ist im Deutschen durchaus belastet, und wer »popular«
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