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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel
Autoren: Marko Hautala
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W enn die letzte Finsternis aufzieht, bekämpfe sie nicht, sondern lösche auch deines Nachbarn Kerze. Wer gegen die Finsternis jener Tage angeht, widersetzt sich dem Plan des Herrn.
    In der völligen Dunkelheit seiner Gefangenschaft klammerte Jakob sich an Israel Ulstadius’ Worte.
    Die Dunkelheit war nicht länger nur ein Mangel an Licht. Sie war eine andere, wirklichere Welt, in der alles gleichrangig und zeitlos war. Wahnvorstellungen waren nicht von wirklichen Ereignissen zu unterscheiden. Die Zeit verwandelte sich in einen Kreis, drehte sich um sich selbst, bis sie verschwand. Nichts maß die Finsternis.
    Zuerst hatten sich die Zeitspannen an den Gebeten gemessen, vom Amen zum Amen. Dann kam das Knarren des Mastes. Eins, zwei, drei. Als all das im Chaos der Unregelmäßigkeiten zerfallen war, hatte Jakob auf seinen Körper gelauscht. Auf die Stärke des Hungers, des Schüttelfrostes, des Stuhldrangs, auf die Müdigkeit. Auf die Bisse der Ratten in die Wunden an den Zehen. Auf das wiederkehrende Gefühl, dass etwas über seinen Fuß lief. Auch das waren jedoch unregelmäßige, zufällige Geschehnisse, an denen sich der Lauf der Zeit nicht messen ließ.
    Jakob musste sich fragen: Woher wusste man in vollkommenerDunkelheit, wann man schlief und wann man wach war?
    Wenn man die Finger so lange gegen das Handgelenk presste, bis man Blut spürte, wusste man, dass man wach war. Aber waren Träume nicht gerade deshalb trügerisch, weil sie so wirklich erschienen? Wenn er plötzlich nicht von Dunkelheit umgeben war, sondern im Sonnenschein über die Straße vor seinem Haus ging, wusste er dann nicht, dass er träumte?
    Dann fielen ihm die Körner ein.
    Er nahm den Stoffbeutel, den er am Bauch unter seinem Hemd versteckt hatte, und legte ihn auf den Boden. In dem Beutel fanden seine Finger die kalte Fläche eines kleinen Spiegels. Und die Körner. Jakob nahm sie einzeln heraus und ließ sie auf seine Handfläche fallen. Insgesamt sechsundachtzig schwarze, wie Wolfszähne geformte Körner. Als der Beutel leer war, legte er sie sorgfältig wieder hinein und begann von vorn, bis die Zeitspanne zweimal sechsundachtzig betrug. Dann drei-, vier-, fünfmal sechsundachtzig.
    Die Zeit verging wieder, Korn für Korn. In gleichmäßigem Takt fiel eins nach dem anderen auf seine Handfläche. Die Empfindung war so schwach, dass man sie nur wahrnahm, wenn Seele und Körper alles andere ausschlossen.
    Jakob vergaß die Kälte, die Dunkelheit und die Verzweiflung.
    Er versuchte nicht mehr, seine Hände zu sehen, gegen die Dunkelheit zu kämpfen. Er saß in ihrer knarrenden, knirschenden Schaukel und wartete auf das Fallen des nächsten Korns.
    Das Poltern der Stiefel entging seiner Aufmerksamkeit, denn nur die Körner waren wirklich. Erst als das Türschlossklirrte, schrak er auf. Er legte die Körner sorgsam in den Beutel und verbarg ihn wieder unter seinem Hemd.
    Licht flutete in den Raum, eine Stimme befahl Jakob aufzustehen. Man riss ihn an den Haaren hoch, schleifte ihn durch den Gang und über die Treppe an Deck. Die fühllos gewordenen Beine wollten ihn nicht tragen, denn das Schiff schaukelte heftig, und er schmeckte salzigen Nebel im Mund. Die Gestalten der Seeleute waren gesichtslose Schemen, die höhnisch riefen, kreischten und schwankten, im selben ungleichmäßigen Takt wie die Möwen. Obwohl die Wolken den Himmel schwarz färbten wie der Rauch auf einem Schlachtfeld, ertrug Jakob seine Helligkeit nicht. Seine Lider schlossen sich, wollten die Dunkelheit zurückholen.
    In der Kajüte erwartete ihn ein Mann mit aufgedunsenem Gesicht, einem schlecht gepflegten Schnurrbart und Flecken auf der Halskrause. Er schob Papiere auf seinem Tisch zurecht, wollte offenbar etwas sagen, musste sich jedoch in ein Gefäß erbrechen, das hinter seinem Tisch stand. Dabei war ein metallisches Plätschern zu vernehmen, als wäre der draußen wütende Sturm in den Mann gefahren und wollte hinaus. Jakob lachte über diesen Gedanken, bis ihn jemand ins Gesicht schlug. Der Mann hob den Kopf und wischte sich den Mund am Ärmel ab.
    »Ich bin der Apotheker Arvid Langelin«, sagte er heiser. »Ihr, Kaufmann Jakob Mört, seid angeklagt der Hexerei und der Verursachung von Plagen in Eurem Heimatdorf. Deshalb sollt Ihr der Verurteilung und Bestrafung zugeführt werden. Habt Ihr dazu etwas zu sagen?«
    »Über Hexerei wisst Ihr als Apotheker mehr als ich«, antwortete Jakob gelassen.
    »Wie meint Ihr das?«
    Jakob erklärte, für eine beschmutzte Seele
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